Historisches
Inhalt
Vorbemerkungen
Es ist keineswegs meine Absicht, den
Christentums- oder Kirchen-Historikern Konkurrenz zu machen. Bei meinen
Recherchen in der mir zugänglichen Literatur sind mir einige
Gedanken und Erkenntnisse "zugefallen", die ich für wichtig
genug erachte, um sie hier darzustellen. Es handelt sich dabei um eine
subjektive Auswahl ohne jeden wissenschaftlichen Anspruch und ohne den
geringsten Ehrgeiz ein vollständiges Bild der Geschichte des
organisierten Christentums zu entwerfen. Wie schon an anderer Stelle
ähnlich ausgeführt (s. hier), entsteht hier
allenfalls so etwas wie eine grob strukturierte Collage
aus vorläufigen Einsichten und Aha-Erlebnissen bezogen auf
Teilaspekte des hinterfragten Gegenstands.
Vieles wird hier nicht
näher betrachtet: u. a. der vermeintliche oder
tatsächliche Einfluss des Christentums auf die Entwicklung der
europäischen Kultur. Wir können zwar noch heute
großartige Werke z. B. der Architektur und der Bildenden
Künste bestaunen, die im Auftrag mächtiger
Kirchenfürsten in ferner Vergangenheit geschaffen wurden. Es
darf aber nicht übersehen werden, dass das Wirken der
Architekten und Künstler im Einflussbereich des organisierten
Christentums im Wesentlichen auf Kirchengebäude –
mit teilweise gigantischen Ausmaßen –
vordergründig zur »Ehre Gottes«,
häufig aber eher zum Ruhme ihrer Bauherren, auf riesige
Klosteranlagen und ebensolche Bischofssitze sowie auf Kunstwerke mit
kirchlich-religiösen Inhalten beschränkt war.
Letztere dienten nicht nur der Verherrlichung
»Gottes«, »Jesu Christi«, der
»Gottesmutter« Maria oder zweifelhafter
»Heiliger«, sondern insbesondere auch der
jeweiligen Köpfe der Kirche. Und man darf auch nicht
übersehen, dass dieselben kirchlichen Machthaber, die auf ihre
Weise künstlerische Kreativität förderten,
die Entwicklung auf anderen Gebieten, z. B. in den Naturwissenschaften,
massiv behinderten.
Es wäre also lohnend,
genauer hinzuschauen, welches denn die Triebfedern und die
Handlungsmaximen der führenden Köpfe der Kirchen in
diesem Geschehen waren. Ebenso lohnend wäre es der Frage
nachzugehen, unter welchen sozialen Bedingungen die selektiv
geförderten kulturellen Leistungen zustande kamen und welche (un)sozialen
Folgewirkungen sie nach sich zogen.
Eine plausible
Antwort auf die angeschnittenen Fragen fand ich beim Historiker und Autor Rolf
Bergmeier (*1940). Im Epilog seines Buches Schatten über Europa
schreibt er über die negativen Wirkungen der
äußerst fragwürdigen Handlungsweise der
Köpfe des organisierten Christentums:
"Dass […] im
christlichen Abendland ein wissenschaftliches Vakuum geschaffen wurde,
Kultur zum Stiefkind der Religion geriet, die Menschen im Dunkel
mächtiger Kathedralen ein armseliges Dasein fristeten, das lag
vor allem an einer Kirche, die den religiösen Fundamentalismus
auf die Spitze trieb, die Nichtigkeit irdischer Güter
predigte, aber unbeschadet der mahnenden Worte Macht und Reichtum
anhäufte und beides weidlich nutzte."
Auf diesem Hintergrund stellt sich
also ganz unausweichlich die Frage: War die gängige
Bezeichnung »christliches
Abendland« jemals gerechtfertigt? Der
Schriftsteller Arno Schmidt (1914-1979) hat sich
dazu unmissverständlich geäußert:
"Unsere abendländische
Kultur, auf Altertum und Renaissance beruhend, ist im
härtesten Kampf gegen die ausgesprochen kulturhemmenden
Kräfte des Christentums entstanden!"
Eine weitergehende Diskussion der
vorgenannten Fragen und der Versuch ihrer befriedigenden Beantwortung
werden hier nicht unternommen. Es schwingen implizit ein paar andere
Fragen mit, deren Beantwortung aber erst nach dem möglichen
Abschluss der begonnenen Recherchen versucht werden kann: Was
könnte das organisierte Christentum dazu bewegen, die
"Verweigerung der Moderne" (Herbert
Koch) aufzugeben und sein selbsgewähltes Denk-Getto
zu verlassen? Was müsste geschehen, dass z. B. die
protestantischen Kirchen, neben den schon lange anhaltenden,
quälenden Debatten über strukturelle Reformen,
endlich die m. E. überfällige Reform ihrer tradierten
Glaubensinhalte anpackten? Welche Erkenntnisse ließen sich
aus einer ehrlichen Analyse der Geschichte des
Christentums zur Beantwortung der offenen Fragen gewinnen?
Überlieferung der Schriften des Neuen Testaments
Zusammensetzung
des Neuen Testaments (NT)
Das
NT gliedert sich in 27 Schriften, die etwa zwischen 50 und 130 n. Chr. entstanden sind: 4 Evangelien, 21 Briefe, die
Apostelgeschichte des Lukas und die Offenbarung des Johannes. Die
nachfolgende Tabelle enthält zu einigen dieser Schriften
weitere Details. Sie sind dem Buch Das Neue Testament
des Theologen Gerd Theißen (*1943)
entnommen. Wer sich intensiver mit der
Überlieferungsgeschichte der frühchristlichen Texte
befassen möchte, dem sei dieses Buch zum Einstieg in das Thema
empfohlen.
Zeitrahmen
(n. Chr.)
|
Überlieferte
Schriften
|
40 – 65
|
Logienquelle Q
(Überlieferungen
von Wandercharismatikern, auf deren wahrscheinliche
Existenz nur indirekt geschlossen werden kann: Sowohl im
Matthäus- als auch im Lukasevangelium finden sich gleichartige
Textinhalte, die auf eine ältere Quelle hindeuten)
|
50 – 56
|
Als
echt geltende Paulusbriefe:
|
... 50 / 51
|
... 1. Thessalonicherbrief (älteste Schrift
im NT)
|
... 52 – 55
|
... 1. Korintherbrief
... 2. Korintherbrief
... Galaterbrief (zeitliche
Einordnung unsicher)
... Philemonbrief
... Philipperbrief
|
... 55 / 56 |
... Römerbrief (Beginn frühchristlicher
Publizistik)
|
nach 70
|
Markusevangelium
|
80 – 100
|
Matthäusevangelium
|
80 – 100 (nach 96?)
|
Lukasevangelium
(erstmals belegt bei Markion,
ca. 140)
Apostelgeschichte des Lukas
(erstmals
erwähnt von Justin, ca. 150)
|
1. Hälfte 90er J. (?) |
Offenbarung des Johannes |
100 – 120
|
Johannesevangelium
(von ihm ist das
älteste neutestamentliche Papyrusfragment
«P52» erhalten, das nur wenige Quadratzentimeter
groß ist und meist auf 125 datiert wird, aber auch
jünger sein könnte)
|
um 130 (?)
|
Unechter
2. Petrusbrief (jüngste
Schrift im NT(?)) |
Anmerkungen
- Unechte (pseudepigraphe
oder deuteropaulinische)
Paulusbriefe sind nach Gerd Theißen:
der Epheser-, Kolosser-, 2. Thessalonicher-, 1. und 2. Timotheus- und
der Titusbrief. Er fügt hinzu, dass wahrscheinlich auch die
beiden Petrusbriefe, der Jakobus-, der Judasbrief und der –
früher fälschlicherweise Paulus zugeschriebene
– Brief an die Hebräer unecht
sind.
- Nach der BIBEL in gerechter
Sprache sind die unechten Paulusbriefe
an Timotheus und Titus vermutlich erst um die Mitte des 2. Jahrhunderts
entstanden (s. hier).
Daher ist die in der voranstehenden Tabelle enthaltene Feststellung,
dass der 2. Petrusbrief die "jüngste Schrift im NT" sei, wohl
korrekturbedürftig.
Frühchristliche
Fälschungen – "göttlich authorisierter
Schwindel"?
Bei Gerd Theißen (*1943)
findet sich eine aufschlussreiche persönliche
Einschätzung der Verhaltensweise urchristlicher Verfasser:
"Unechte Briefe nennen wir
Fälschungen, wenn sie den Leser bewusst über den
wahren Autoren täuschen wollen. Wenn wir von «pseudepigraphen
Briefen» oder im paulinischen Bereich von «Deuteropaulinen»
reden, so wird eine moralische Bewertung vermieden. Aber das darf nicht
darüber hinwegtäuschen, dass man auch in der Antike
«Fälschungen» für verwerflich
hielt. Als Ende des 2. Jh. herauskommt, dass ein Presbyter die Akten
des Paulus und der Thekla «aus Liebe zu Paulus»
gefälscht hatte, muss er sein Amt niederlegen (Tertullian,
de baptismo 17). Umso mehr stellt sich die Frage: Wie konnten Christen
mit ihrem hohen Wahrheitsethos so viele unechte Briefe schreiben?
Für historisches Verstehen ist das eine echte
Herausforderung."
Die katholische Theologin Uta Ranke-Heinemann (*1927)
befasst sich in ihrem Buch Nein und Amen
ebenfalls mit den "Fälschungen in der Urkirche" und
würdigt insbesondere den Umgang der römischen
Konfession mit diesem Phänomen. Im Zusammenhang mit den beiden
gefälschten Petrusbriefen schreibt sie u. a.:
"Wo in der katholischen Theologie
solche Verfasserfälschungen zugegeben werden, werden sie
gleichwohl verharmlost oder gerechtfertigt. Es handele sich dabei
angeblich »um eine legitime, weit verbreitete literarische
Gepflogenheit«, meint etwa das Lexikon für Theologie
und Kirche (VIII, 1963, S. 867). Dass solche Fälschungen in
der Urkirche »eine weit verbreitete Gepflogenheit«
waren, soll gar nicht bestritten werden, »legitim«
waren sie darum nicht. Es ist und bleibt religiöse
Falschmünzerei."
Mit Blick auf
die unechten Paulusbriefe verweist Uta
Ranke-Heinemann auf einschlägige Äußerungen
seitens der römischen Konfession, in denen von
»Pseudonymität« jener Briefe die Rede ist:
"Mit der Verharmlosung, es
handele sich ja nur um Pseudonyme, geschieht heute eine erneute
Täuschung der Leser und Hörer. Denn einem
Künstlernamen geht es nicht um das, was die neutestamentlichen
Brieffälscher bezweckten: die Selbstverleihung einer
apostolischen Autorität, die »durch den Willen
Gottes« verliehen wurde und darum eine Autorität im
Namen Gottes sein will. Die Kirche reagiert bei der Frage: Wie sage ich
es meinem Kinde? sehr zögernd. Sie trennt sich schwer von
solch göttlich autorisiertem Schwindel. An apostolischer
Verfasserautorität ist der Kirche gelegen, weil solche
apostolische Autorität sich immer in kirchliche
Größe ummünzen lässt. Von dieser
Größe ginge viel verloren, wenn die Kirche alle
Fälschungen offen zugäbe."
Tradition
fortgesetzter Täuschung?
Es ist schon bemerkenswert, dass, ungeachtet der Erkenntnisse der
historisch-kritischen Textanalyse, alle sog.
Paulusbriefe – die echten und die
unechten – in den gängigen Bibelausgaben mit
»Der Brief des Paulus an ...« oder in der "GUTE NACHRICHT BIBEL"
aus dem Jahre 2000 mit »Der Brief des Apostels Paulus an
...« überschrieben sind. Das halte ich für
hochgradig unredlich.
Eine löbliche Ausnahme ist
in dieser Hinsicht die "BIBEL
in gerechter Sprache" von 2006. Darin
lauten die Überschriften z. B. »Brief an die
Gemeinde in Rom« oder »An die Gemeinde in
Thessaloniki: Erster Brief«. Der Name Paulus erscheint in
keiner Überschrift. Zu jedem Brief gibt es jedoch eine
Einführung, die Auskunft gibt über den oder die
Verfasser. Dadurch wird jeweils deutlich, ob es sich um einen der
sieben als echt bzw. um einen der sechs als unecht
geltenden Paulusbriefe handelt (hier finden sich
Auszüge aus jenen Einführungen, die den unechten
Briefen vorangestellt sind).
Probleme
frühchristlicher Textüberlieferung
Eine umfassende Darstellung der vielfältigen Probleme ist hier
weder möglich noch angestrebt. Es kann hier lediglich auf
Fragen hingewiesen werden, die der Überlieferungsgeschichte
der NT-Texte anhaften. Und diese betreffen nicht nur die
Identität der Verfasser: Karlheinz Deschner (1924-2014) stellt
in seiner Kirchengeschichte
fest, dass, abgesehen von den echten Paulusbriefen, von keiner
neutestamentlichen Schrift der Verfasser mit Sicherheit bekannt sei.
Sie beziehen sich auch auf die Tatsache, dass keiner der Verfasser
Augenzeuge war oder gar Begleiter des historischen Jesus. Sie betreffen
aber vor allem die überlieferten Inhalte.
Kaum jemand hat sich intensiver mit
der Geschichte des Christentums und mit den einhergehenden Problemen
beschäftigt als der literatur- und kirchenkritische Schriftsteller
Karlheinz Deschner. Einige Abschnitte seines Buches Der gefälschte Glaube
befassen sich mit den Problemen der inhaltlichen
Text-Überlieferung:
"Nicht nur liegt kein Evangelium
im Original vor, …, sondern es blieb kein
neutestamentliches, ja überhaupt kein biblisches Buch in
seinem ursprünglichen Wortlaut erhalten. Aber auch die ersten
Abschriften liegen nicht vor. Es gibt nur Abschriften von Abschriften
von Abschriften.
[...]
In Wirklichkeit ging man beim Abschreiben der Evangelien, zumal in der
ältesten Zeit, umso ungenierter vor, als sie fast ein
Jahrhundert gar nicht als heilig und unantastbar galten.
[…]
Verbessern freilich wollten die Evangelien auch ihre
ungezählten Kopisten. Sie strichen und setzten zu,
paraphrasierten und ergingen sich in der Ausmalung von Details, sie
erzählten mehr nach, als dass sie korrekte Abschriften
lieferten. »Der Originaltext«, erklären
die Theologen Hoskyns und Davey, »verschwindet immer mehr;
man bemerkt die immer zahlreicher werdenden Widersprüche
zwischen den Handschriften verschiedener Überlieferung und
versucht sie auszugleichen: Das Ergebnis ist ein Chaos.«
[…]
Um der heillosen Verwilderung ein Ende zu machen, beauftragte im Jahr
383 Bischof Damasus von Rom den
Dalmatiner Hieronymus, einen skrupellosen
Verleumder und Fälscher (den die Catholica instinktsicher zum
Patron ihrer theologischen Fakultäten machte), mit der
Herstellung eines einheitlichen Textes der lateinischen Bibeln, von
denen auch nicht zwei in längeren Abschnitten
übereinstimmten. Der päpstliche Sekretär
änderte dabei den Wortlaut der Vorlage, die er als Basis
für seine "Berichtigung" der vier Evangelien benutzte, an etwa
3500 Stellen. Diese Übersetzung des Hieronymus, die Vulgata,
die allgemein Verbreitete, von der Kirche selbst jahrhundertelang
abgelehnt, wurde im 16. Jahrhundert auf dem Konzil in Trient für
authentisch erklärt."
Anmerkung
Ich fand die Aussage Karlheinz Deschners, dass die Evangelien "fast ein
Jahrhundert gar nicht als heilig und unantastbar galten", in der BIBEL in gerechter
Sprache bestätigt, und zwar in der Einführung
ins Neue Testament:
»Die heilige
Schrift des entstehenden Christentums war bis zur Mitte des 2. Jh. n.
Chr. ausschließlich der Tanach,
die jüdische Bibel. Erst danach werden Texte, die heute im
Neuen Testament enthalten sind, ebenfalls als heilige Schrift
bezeichnet.«
Der ehemalige Jesuit
und Professor an der päpstlichen Universität in Rom, Alighiero Tondi (1908-1984), hat
sich in seinem Buch Die
Jesuiten u. a. auch mit der historischen
Einordnung der ältesten überlieferten Versionen der
im NT enthaltenen Evangelien befasst. Nach seiner Auffassung
"… muss als erstes
festgestellt werden, dass uns die Evangelien nicht in ihrem
Originaltext überliefert sind. Vom Evangelium des
Matthäus kennen wir nur die griechische Übersetzung;
der ursprüngliche Text, der wahrscheinlich in
aramäischer Sprache verfasst war, wurde niemals aufgefunden.
Beachten wir weiter, dass die Texte der Evangelien, die uns
überliefert sind, höchstens bis zur Mitte oder zum
Ende des 4. Jahrhunderts zurückgehen (Codex Vaticanus und Codex Sinaiticus), das
heißt auf zweihundertfünfzig oder gar dreihundert
Jahre nach dem mutmaßlichen Tode Jesu! Es gibt zwar auch
einige Schriftstücke, die älter sind; doch handelt es
sich dabei um unbedeutende Fragmente. Wer also kann uns garantieren,
dass die oben genannten Codices den Originaltext genau wiedergeben?
Ebenso wenig können wir herausbekommen, wer die wahren Autoren
der Evangelien sind. Man kann sich infolgedessen keinerlei Gewissheit
darüber verschaffen, ob man diesen Autoren trauen darf oder ob
sie Fantasten und Schwärmer waren."
Anmerkung
Es scheint, als hätte Tondi die sog. Bodmer Papyri nicht gekannt. Zwei
davon, die Fragmente »P66« und
»P75«, werden auf 200 n. Chr. datiert. Sie
enthalten einen großen Teil des Johannesevangeliums und
können daher wohl kaum als "unbedeutende Fragmente" bezeichnet
werden.
Ich finde in diesem Zusammenhang
auch erwähnenswert, was ich zu den diversen
Fäschungen im Neuen Testament vom Theologen Heinz-Werner Kubitza (*1961) erfuhr. In
seinem Buch Der
Jesuswahn heißt es u. a.:
"Aus den gravierenden
Änderungen allein bei der Tradierung des Markustextes auf
Matthäus und Lukas (also bei nur einer
Überlieferungsstufe) kann man erahnen, welche
Veränderungen die Geschichten in der mündlichen
Tradition schon erfahren haben müssen. Die Evangelien erweisen
sich wieder einmal, und nicht nur das Johannesevangelium, als im
historischen Sinne zutiefst unglaubwürdige Schriften.
Hemmungslos haben ihre Verfasser gefälscht und der
christlichen Kirche diese Fälschungen hinterlassen, ein
Fälschen freilich im besten Glauben. Die
Kirche hat diese Fälschungen brav durch die Zeiten getragen
und sie später gar als vom Heiligen Geist gewirkt etikettiert,
und sie hat auf ihnen ein Imperium aufgebaut, und zwar nicht nur ein
religiöses."
Eines wird aus den Feststellungen
von Deschner, Tondi und Kubitza klar: In der Spanne zwischen der
jeweils vermuteten Entstehungszeit der Originaltexte und der Datierung
ihrer ältesten erhaltenen Versionen haben weitere Generationen
von Übersetzern, Abschreibern, Nacherzählern und
Fälschern daran gearbeitet.
Eine leicht lesbare Darstellung der
vielfältigen Probleme im Zusammenhang mit der
Überlieferung der neutestamentlichen Schriften in
verschiedenen Phasen der Ausbreitung des Christentums bietet das Buch Abgeschrieben, falsch
zitiert und missverstanden des amerikanischen
Theologieprofessors für die Geschichte des Neuen Testaments
und der frühen Kirche Bart D. Ehrman (*ca. 1955).
Frühe Kritiker
christlicher Textüberlieferung
Die kritische Betrachtung der neutestamentlichen
Schriften begann nicht erst in der Neuzeit. Sie war eine
Begleiterscheinung schon des frühen Christentums. Im Grunde
haben hellenistische Denker in der Zeit vom 2. bis zum 4. Jahrhundert
schon alles Wesentliche gesagt, was dann etwa seit der Frühaufklärung
bestätigt und vertieft worden ist. In seinem Werk Griechische Studien
befasste sich der Altphilologe und Philosoph Wilhelm Nestle (1865-1959) mit
frühen Kritikern. Er zitiert dort vor allem die
spätantiken Philosophen Celsus (spätes 2. Jh.)
und Porphyrios (233-301/305) sowie den
christlich erzogenen römischen Kaiser Julian (331-363). Letzterer
kannte die Werke der beiden anderen. Nestle schreibt: "Julian geht in
den Spuren des Celsus und Porphyrios weiter."
Die Kritik dieser
spätantiken Denker richtet sich vor allem "gegen die
Evangelisten und die beiden Hauptapostel Petrus und Paulus". Es lohnt
sich, die umfangreichere Darstellung dieser Kritik bei Nestle
nachzulesen. Hier wird nur ausschnittsweise die kritische
Würdigung der Evangelisten zitiert:
"Die Einwände gegen die
Berichte der E v a n g e l i s t e n betreffen zunächst deren
Zuverlässigkeit. Celsus rügt den Mangel an
Einheitlichkeit in der im steten Fluss befindlichen
Überlieferung: Die erste Niederschrift […] sei
drei- und vierfach umgebildet worden, und man nehme immer weitere
Änderungen vor, um die Gegengründe zu
entkräften. Noch radikaler ist die Auffassung des Porphyrios:
Nach ihm sind die Evangelisten »die Erfinder, nicht die
Erzähler« […] der Begebenheiten, die sich
um Jesus zugetragen haben sollen. Er schließt dies aus den
Widersprüchen in der Passionsgeschichte bei Matthäus,
Markus, Lukas und Johannes, besonders der mangelnden
Übereinstimmung in den Erzählungen vom Tode Jesu, die
den Eindruck der Sagenhaftigkeit […] machen. Wenn sie aber
nicht einmal den Hergang seines Todes wahrheitsgetreu berichten
konnten, sondern ihn in der Art der Fabeldichter erzählten
[…], so ist ihnen auch nicht zuzutrauen, dass sie sonst die
geschichtlichen Vorgänge getreu der Wirklichkeit wiedergaben
[…]."
Nestle erwähnt
beiläufig, dass führende Köpfe des
frühen Christentums sich in ihrer Verteidigung der
Evangelisten auf diese Kritik bezogen. Das zeige sich z. B.,
"wenn Eusebios die Evangelisten gegen
Leute verteidigt, die behaupteten, dass sie »Nichtwirkliches
erdichtet und dem eigenen Lehrer bereitwillig Taten zugeschrieben
hätten, die er nicht vollbracht hatte«."
Ich finde es erwähnenswert,
wie die spätantiken Kritiker mit Jesus, der zentralen Gestalt
des Christentums, umgingen. Nestle betont, dass sich die
geäußerte Kritik "viel weniger gegen die Person Jesu
selbst" richtete, und er fährt fort:
"An seiner Geschichtlichkeit wird
nie der leiseste Zweifel laut, und man vergleicht ihn besonders gern
nicht etwa mit mythischen Gestalten, sondern mit der geschichtlichen
Persönlichkeit des Apollonius von Tyana. Dagegen, was
von ihm erzählt wird, wird angefochten, manchmal mit der
sichtlichen Absicht, seine ehrfurchtgebietende Person zu entlasten;
insbesondere aber wird die Lehre von seiner Gottheit oder doch
göttlichen Abkunft bestritten."
Das Johannesevangelium
– "Dichtung ohne historischen Wert"
Eine weitere Charakterisierung der hier betrachteten problematischen
Aspekte der inhaltlichen Textüberlieferung, am Beispiel des
Johannesevangeliums, findet sich bei dem Theologen und
Pädagogen Gustav
Wyneken (1875-1964):
"Dass das vierte Evangelium von
Anfang bis Ende eine Dichtung und ohne historischen Wert ist, wird auch
von Theologen freierer Richtung ausgesprochen (und von anderen
stillschweigend vorausgesetzt). Wer oder was garantiert uns aber, dass
es um die drei ersten Evangelien besser steht? Wenn Lukas zu den in den
beiden ersten Evangelien berichteten Gleichnissen Jesu so
eindrucksvolle hinzufügt wie die Geschichte vom barmherzigen
Samariter, vom verlorenen Sohn, vom reichen Mann und armen Lazarus, so
ist es eben undenkbar, dass die ersten Sammler diese schönsten
und lebendigsten Gleichnisse ausgelassen hätten, wenn sie
damals schon in der Überlieferung vorhanden gewesen
wären. Sie sind also erst später gedichtet und dann
durch Lukas den anderen hinzugefügt worden. Wer sich nun die
Jesusgestalt ohne diese berühmten Gleichnisse nicht vorstellen
mag, der lerne daraus, wie diese Gestalt zustande gekommen ist: hier
jedenfalls auf literarischem Weg."
Der katholische Theologe Peter de Rosa (*1932) stellte eine
ähnlich ernüchternde Betrachtung an:
"Wir müssen bestimmte
liebgewordene Vorstellungen aufgeben. Erstens, dass das vierte
Evangelium von Johannes, einem der zwölf Apostel, stamme. Er
wurde höchstwahrscheinlich vierzig Jahre bevor es geschrieben
wurde, zusammen mit seinem Bruder Jakob, getötet. Zweitens,
dass das vierte Evangelium verlässliche Geschichte sei. Es ist
vielmehr eine lange theologische Meditation."
Der Theologe Martin Dibelius (1883-1947)
äußert sich über das vierte Evangelium in
seinem Buch Die
Formgeschichte des Evangeliums in
theologisch-kryptischer, für Nicht-Theologen nur schwer
nachzuvollziehender Weise:
"..., hier gibt es kaum ein Wort
oder eine Tat, die nicht zum Ausdruck brächte, was Jesus der
Erhöhte den Seinen ist und bringt, hier wird das Wirken Jesu
wirklich erzählt als die Geschichte des Gottessohnes, die voll
ist von heiligen und geheimnisvollen Beziehungen zu Glauben und Kult;
hier ist alles Mythus."
Dibelius kommt dann zu einer
überraschenden abschließenden Bewertung dieses
Evangeliums, die für Nicht-Theologen gar nicht
nachzuvollziehen ist:
"Diesem Buche gehört die
Zukunft. Es bewahrte das Wertvollste der Tradition, aber d i e
T r a d i t i o n w a r i n d e
n M y t h u s e i n g e g a n g e n. Das Evangelium
des Johannes erzählte von demselben göttlichen
Heiland, den man im Kultus verehrte und bekannte. Die Entwicklung der
zwei Größen, Tradition und Mythus, aufeinander hin
war hier zu einem Abschluss gekommen."
Dieses positive Fazit kann wohl nur
nachvollziehen und verstehen, wer in der Lage ist, den im theologischen
"Denk-Getto" (s. hier)
verwendeten Code zu entschlüsseln. Ich vermag diese positive
Beurteilung schon deshalb nicht zu teilen, weil in dieser Schrift nicht
der Mensch Jesus, sondern ausschließlich der
übernatürliche antik-hellenistische
"göttliche Heiland" auftritt und weil diesem "Heiland" darin
extrem antijüdische Äußerungen in den Mund
gelegt werden. Ein besonders krasses, zutiefst menschenverachtendes,
Beispiel findet sich im Kapitel 8, in den Versen 42-47 (s. hier).
Schon der Theologe, Kirchen- und
Dogmenhistoriker Ferdinand Christian Baur
(1792-1860), der die historisch-kritische Methode in
die Erforschung der neutestamentlichen Texte eingeführt hatte,
erklärte das Johannesevangelium »für
eine rein ideale Komposition ohne geschichtlichen Halt«.
Anmerkung
Die Aussage Baur's findet
sich im Buch Einleitung
in das Neue Testament des Theologen Heinrich Julius Holtzmann
(1832-1910).
Jeder übersetzte,
»so gut er konnte«
Beim Theologen David
Friedrich Strauß (1808-1874) fand ich folgende
Äußerung über die Herkunft des
Matthäusevangeliums. Er zitiert dabei Eusebius von Caesarea
(260/264-337/340), der sich seinerseits auf Papias von Hierapolis
(†um 140) bezog:
"Was fürs Erste das
Matthäus-Evangelium betrifft, so hat uns Eusebius von Papias,
der in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts Bischof von
Hierapolis in Phrygien war und die Überlieferungen von den
Aposteln aus dem Munde der Kirchenältesten fleißig
sammelte, folgendes Zeugnis aufbehalten: »Matthäus
schrieb in hebräischer Sprache die Sprüche (des
Herrn) auf, es verdolmetschte sie aber ein jeder, so gut er
konnte.« Dass Matthäus sein Evangelium
hebräisch, d. h. in der damaligen aramäischen
Landessprache, geschrieben, wird von den späteren
Kirchenlehrern … wiederholt, und von Eusebius näher
dahin bestimmt, Matthäus habe es getan, als er von den
Hebräern zu anderen gehen wollte, um jenen seine
persönliche Gegenwart durch eine Schrift zu ersetzen."
Strauß ergänzt
die Aussage des Papias um eine weitergehende Erläuterung:
"Doch nur von einer
hebräischen Evangelienschrift bezeugt Papias die Abfassung
durch den Apostel Matthäus; dass aber unser griechischer
Matthäus eine Übersetzung davon sei, sagt er nicht,
und in seinem Ausdruck, es habe sie jeder übersetzt, so gut er
gekonnt habe, scheint die Andeutung zu liegen, dass diese
Übersetzungen von einander abwichen, mehr Bearbeitungen als
Übersetzungen waren."
Wenn man sich
vergegenwärtigt, dass die frühen Christen meist einer
Gesellschaftsschicht entstammten, deren Angehörige einen
vergleichsweise niedrigen Bildungsgrad besaßen,
lässt sich vermuten, dass Übersetzungen aus dem
Aramäischen ins Griechische nicht sonderlich korrekt gewesen
sein können. Es klingt daher sehr plausibel, wenn Papias
bezeugt, dass jeder übersetzte, »so gut er
konnte.«
Spannungsverhältnis
zwischen "ekstatischer Verkündigung" und Wahrheit
Eine für mich ebenso plausible kritische Würdigung
der Inhalte der neutestamentlichen Schriften fand ich bei dem
anglikanischen Bischof John
Shelby Spong (*1931). Im Zusammenhang mit der Entwicklung der
in den Paulusbriefen erkennbaren
paulinischen Theologie führt er aus:
"Genau in dem Augenblick, in dem
wir von ekstatischer Verkündigung zu ihrer Erklärung
übergehen, beginnen die Vorurteile, die Definitionen und
Stereotypen der Vergangenheit unsere Worte zu formen. Das ist
unausweichlich. Deshalb können auch theologische
Erläuterungen nie wörtlich wahr sein oder als ewig
gültig angesehen werden. Obwohl die institutionalisierte
Religion das Gegenteil in Anspruch nimmt, sind Glaubensbekenntnisse und
Theologie nichts als Deutungen. Sie sind somit unvermeidbar entstellte
Versionen der Wahrheit, eingebunden in die Zeit, in der sie formuliert
wurden."
Was John Shelby Spong meinte wird
noch verständlicher, wenn man sich vergegenwärtigt,
wer Paulus vermutlich war. Wilhelm Nestle (1865-1959)
beschreibt die Persönlichkeit dieses Menschen in seinem
christentumskritischen Buch Die
Krisis des Christentums so:
"Denn Paulus war eine
leidenschaftliche Natur, ein »Eiferer um Gott«, d.
h. ein religiöser Fanatiker, dazu ein Mystiker und Ekstatiker
mit pathologischen Zügen."
In seinem Buch Griechische Studien
erwähnt Nestle die Einschätzung eines frühen
Kritikers des Christentums aus dem dritten Jahrhundert. Es handelt sich
um den Neuplatoniker Porphyrios
(233-301/305), der Paulus ganz ähnlich charakterisierte.
Für ihn war Paulus ein Mensch,
»dessen Geist in
Fieberschauern liegt und dessen Denkkraft krank ist«.
Offenkundige
Fehler in den
Texten werden bis heute fortgeschrieben
Dass die mit der
Überlieferung neutestamentlicher Texte nachweislich von Anfang
an verknüpften Probleme bis in die jüngste Zeit
fortbestehen, lässt sich anhand des folgenden einfachen
Beispiels zeigen, auf das ich durch den jüdischen Theologen
und Religionswissenschaftler Pinchas Lapide (1922-1997)
aufmerksam geworden bin. In seinem Buch Er wandelte nicht auf dem Meer
– Ein jüdischer Theologe liest die Evangelien
weist er sehr überzeugend nach, dass das Wunder von Jesu
"Wandeln auf dem Meer" (s. Mk 6, 45-52) wohl auf ein sprachliches
Missverständnis in der frühen Überlieferung
zurückzuführen ist:
"Die Rede ist von der griechischen
Wortgruppe »Auf dem Meer« in Mk 6,48, die bereits
durch die Erhebung des galiläischen Binnensees zum
»Meer« ihre hebräische Vorlage
durchschimmern lässt. In der Muttersprache Jesu
heißt dieser See nämlich
»Jam-Kinnereth«, d. h. »das Meer von
Genezareth«.
Nun ergibt aber eine wörtliche
Rückübersetzung von epi tes thalasses (auf dem Meer):
das hebräische »al-ha-jam«, das
»am Meer« bedeutet im Sinne von: auf dem Meeresufer
oder: entlang dem Meeresstrand. ...
…, dürfen wir
wohl annehmen, dass Jesu »Seewandeln« als Folge
einer optischen Täuschung der Jünger entstand, die
später, im Zuge der Übersetzung ins Griechische,
durch ein sprachliches Missverständnis (oder eine absichtliche
Hochstilisierung) zum Wunder verherrlicht worden ist.
Diese Annahme wird durch die
Tatsache bekräftigt, dass im griechischen Altertum zahlreiche
Legenden von einem Gehen auf dem Wasser erzählen. So zum
Beispiel hatte Orion, der Sohn des Poseidon,
die Fähigkeit, »auf den Wogen zu gehen wie auf dem
Land«."
Meine "Senfkornbibel" von
1955 enthält unter Mk 6, 48 die Worte:
»48 Und er sah,
dass sie Not litten im Rudern; denn der Wind war ihnen entgegen. Und um
die vierte Wache der Nacht kam er zu ihnen und wandelte auf dem
Meer;«
In meiner Bibel von 1987 (Bibeltext
in der revidierten Fassung von 1984) heißt es an dieser
Stelle:
»48 Und er sah,
dass sie sich abplagten beim Rudern, denn der Wind stand ihnen
entgegen. Um die vierte Nachtwache kam er zu ihnen und ging auf dem See
und wollte an ihnen vorübergehen.«
Und in der "BIBEL in gerechter
Sprache" von 2006 lautet derselbe Vers:
»48 Und als er
sah, wie sie sich beim Rudern abquälten – sie hatten
nämlich starken Gegenwind – kam er gegen 3 Uhr
morgens auf dem See laufend zu ihnen, und er wollte an ihnen
vorübergehen.«
Den Bearbeitern der revidierten
Fassung von 1984 dürften die sprachlichen Probleme, auf die
Pinchas Lapide hingewiesen hatte, bekannt gewesen sein. Sie ignorierten
diese jedoch, anstatt eine längst
überfällige Korrektur vorzunehmen. Umso
verwunderlicher ist daher, dass sie, wohl in der Meinung, den Text
"modernisieren" zu müssen, aus dem Meer
– unnötigerweise – einen See
machten. Sie ignorierten also auch, dass z. B. der Bodensee weithin als
"Schwäbisches Meer" bekannt ist. Eine
entsprechende Fußnote mit dem Hinweis auf den See Genezareth
hätte genügt. Noch erstaunlicher ist
natürlich, dass die Verfasser der "BIBEL in gerechter Sprache"
dem von Pinchas Lapide aufgezeigten "sprachlichen
Missverständnis" ebenfalls keinerlei Beachtung schenkten.
Ich finde es zwar
außerordentlich bedauerlich, dass die Kirchen nicht den Mut
aufbringen, die notwendige Korrektur vorzunehmen, kann mir jedoch auch
vorstellen, dass eine Fehlerbehebung an dieser Stelle eine Entwicklung
zur Korrektur der neutestamentlichen Texte insgesamt
in Gang setzen könnte. Dieses, einem Dammbruch nicht ganz
unähnliche Szenario, fürchten die Protagonisten des
organisierten Christentums aber wohl ebenso "wie der Teufel das
Weihwasser". Aus ihrer Sicht verständlich, denn die Bibel der
Christen wäre danach nicht wiederzuerkennen.
Ein
Mythos ist ein Mythos, nicht mehr und nicht weniger
Als ich die voranstehenden Zeilen, nach längerem zeitlichen
Abstand, wieder einmal überflog, erschienen mir die darin
angestellten Überlegungen schlicht als abwegig. Mir ist
mittlerweile klar, dass die im NT zusammengefassten Schriften nichts
anderes sind als ein Gewebe mythischer Erzählungen (oder auch
anderer literarischer Ausdrucksformen) um einen Menschen mit dem
gebräuchlichen jüdischen Namen Jesus,
der im Zuge der Überlieferung, nach bekanntem
antik-hellenistischem Muster, zum «Gott» Christus
hochstilisiert wurde.
Eine angestrebte Korrektur dieser
mythischen Vorstellungen wäre nicht sehr verschieden von dem
Ansinnen, den im AT enthaltenen Schöpfungsmythos, aufgrund
evolutionstheoretischer Erkenntnisse, "korrigieren" zu wollen.
Eine mögliche Korrektur, in
dem oben angedachten Sinne, machte ja nur dann Sinn, wenn es sich,
aufgrund neuerer verifizierter Erkenntnisse, um die Bereinigung eines
Sachverhaltes in einem ansonsten als seriös und
verlässlich einzustufenden historischen Bericht handelte. Das
ist in dem hier betrachteten Zusammenhang aber gerade nicht
der Fall. Es bleibt uns m. E. also nur, ganz nüchtern
festzustellen: Ein Mythos
ist ein Mythos, nicht mehr und nicht weniger.
Was uns darüber hinaus
natürlich bleibt, ist die Möglichkeit, die
betrachteten Mythen daraufhin zu prüfen, ob sie allgemein
gültige, lebensdienliche Weisheiten bzw. Wahrheiten
bereithalten. Dabei ist durchaus nicht sicher, dass wir stets
auf bedeutende hilfreiche Wahrheiten stoßen. Mit
ähnlich großer Wahrscheinlichkeit lassen sich aus
ihnen wohl auch, zumindest aus heutiger Sicht, bedeutende Torheiten zu
Tage fördern. Zu letzteren zähle ich z. B. den
»Paradies«-Mythos, in dem
«Gott» Adam bzw. dem »Menschen«
verbietet, von einem bestimmten Baum zu essen: »aber von dem Baum
der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen, denn
an dem Tage, da du von ihm issest, musst du des Todes
sterben« (1 Mo 2,17).
Da Mythen, insbesondere solche aus
der religiösen Sphäre, meist aus archaischer Vorzeit
stammen und daher Gedanken und Bilder enthalten, deren Sinngehalte sich
uns nicht mehr unmittelbar erschließen, ist die erforderliche
eingehende Analyse schwierig: Wir denken und leben nicht wie Menschen
vor 2000 oder mehr Jahren und haben einen völlig anderen
Erkenntnisstand und Erfahrungshorizont.
Zudem sind Mythen stets nicht nur
von der kulturellen Situation, sondern u. a. auch von den
Umweltbedingungen jener Weltgegenden abhängig, in denen sie
sich entwickelten. Bezogen auf die biblischen Mythen heißt
das: Sie sind zwar in Palästina bzw. im östlichen
Mittelmeerraum aufgeschrieben worden, enthalten aber ältere
Überlieferungen aus den ägyptischen, babylonischen,
persischen und vielleicht sogar aus den indischen Kulturkreisen. Das
ändert jedoch nichts daran, dass sie im Wesentlichen das
Gedankengut der vorderasiatisch-orientalischen Kulturen der Antike
widerspiegeln. Da drängt sich die Frage auf, ob sich der
tiefere Gehalt dieses Gedankengutes für Menschen des 21.
Jahrhunderts überhaupt noch erschließen oder
adäquat übersetzen lässt.
Die mythischen Erzählungen
in der Bibel beschreiben häufig, zumindest auf den ersten
Blick, übernatürliche Erscheinungen oder Gestalten
mit übernatürlichen Kräften.
Während Menschen der Antike sicher überhaupt kein
Problem damit hatten, bei der Deutung von, für sie
unerklärlichen, gleichwohl natürlichen
Phänomenen, übernatürliche
Ursachen und Wirkungen anzunehmen und damit zufrieden zu leben, ist das
für heutige Menschen eben nicht mehr ohne weiteres
möglich.
Möglich ist es allenfalls
dort – auch heute noch(!) – wo Menschen schon seit
frühester Kindheit durch die kirchliche Verkündigung
vermeintlicher "göttlicher Wahrheiten" indoktriniert wurden.
Dass es sich in Wirklichkeit nicht um echte,
sondern allenfalls um dogmatisch behauptete "Wahrheiten"
handelt, wird von den Repräsentanten des organisierten
Christentums geflissentlich verschwiegen. Daran wird sich wohl erst
etwas ändern, wenn die Mehrzahl der kirchlichen
Verkünder sich jener Haltung entledigt, die exemplarisch vom
Theologen Paul Tillich (1886-1965) vertreten
wurde. Er äußerte die
Ansicht, man könne die Gläubigen in ihrem
althergebrachten (falschen) Glauben bestärken, solange bei
ihnen "das kritische Bewusstsein unentwickelt oder die
natürliche Leichtgläubigkeit ungebrochen ist" (mehr
dazu s. hier).
In diesem Zusammenhang erscheint mir
sehr plausibel, was der ehemalige katholische Priester Peter de Rosa (*1932) in seinem
Buch Der Jesus-Mythos,
in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts, feststellte:
"Wenn Mythen als historisch
behandelt werden, wird die christliche Erzählung peinlicher,
als die alten griechischen Mythen, weil an sie
niemand im Abendland mehr glaubt."
Und leider gilt wohl auch, nach wie
vor, was Peter de Rosa seinerzeit schlussfolgerte:
"Die schlechteste aller
Lösungen – die die Kirchen noch immer bevorzugen
–, ist, die Mythologie beizubehalten und zu leugnen, dass es
Mythologie ist."
Den spätantiken
Konstrukteuren dieser Mythologie können wir keinen Vorwurf
machen. Sie konstruierten sie, nach bestem Wissen und Gewissen, auf der
Basis unsicherer mündlicher Überlieferungen, unter
den damaligen kulturellen, gesellschaftlichen und religiösen
Randbedingungen, sowie unter den zeitbedingten und schichtspezifischen
Begrenzungen ihres geistigen Horizontes. Sie können auch
nichts dafür, dass die heutigen Repräsentanten des
organisierten Christentums die in ihren mythischen Texten
transportierten Inhalte so handhaben, als seien sie für
Menschen des 21. Jahrhunderts immer noch ebenso relevant, wie
für Menschen der Spätantike.
Dass die "christliche
Erzählung" heute tatsächlich nur noch "peinlich"
wirkt, haben allein die heutigen Repräsentanten der
christlichen Religion zu verantworten. Darüber vermag auch
ihre, in den zurückliegenden 2000 Jahren eingeübte
und stets verfeinerte, Interpretationskunst nicht
hinwegzutäuschen: Mit ihrem kritiklosen Festhalten an
althergebrachten, längst überholten Denkfiguren
enthüllen sie vielmehr, und das ist das wirklich
Peinliche daran, ihre Defizite an intellektueller
Redlichkeit.
Warum
konnte sich die christliche Lehre durchsetzen und behaupten?
Die vorausgehende, eher bruchstückhafte, auf die
Überlieferungsgeschichte christlicher Texte bezogene
Darstellung von Fakten und Einschätzungen zeigt
überdeutlich, auf welch fragwürdige Weise das
Fundament der christlichen Lehre gelegt wurde. Daher drängt
sich die Frage auf, wie es geschehen konnte, dass sich diese Lehre in
wenigen Jahrhunderten durchsetzte, eine so weite Verbreitung erfuhr und
– bis heute(!) – von vielen Menschen als wichtige
"Wahrheit" betrachtet wird.
Im Buch Wir
brauchen keinen Gott – warum man jetzt Atheist sein muss
des französischen Philosophen Michel Onfray (*1959) fand ich
eine kurze, prägnante Antwort:
"Durch das ständige
Wiederholen von Fiktionen erschaffen die Evangelien eine Wahrheit.
Paulus' militante Beharrlichkeit, Konstantins Staatsstreich und die
repressive Politik der valentinianischen und theodosischen Dynastien erledigen
den Rest."
"Eine der
größten Geschichtsfälschungen im NT"
Jesu Antwort auf das
"Petrusbekenntnis" bei Matthäus ist eine Fälschung
Eine Jesus in den Mund gelegte zentrale Aussage, aus der die Kirchen,
insbesondere die Una
Sancta mit ihrem, sich auf Petrus berufenden Papsttum,
letztlich die Rechtfertigung ihrer Existenz ableiten, ist
offensichtlich eine Fälschung. Es handelt sich um die Antwort
Jesu auf das sog. "Petrusbekenntnis". Während man dieses
Bekenntnis in allen drei synoptischen Evangelien findet,
ist die Antwort Jesu nur im
sog. Matthäusevangelium überliefert.
Unter Mt 16,15-19 lautet der Text,
in der revidierten Fassung von 1984:
»15 Er fragte
sie: Wer sagt denn ihr, dass ich sei?
16 Da antwortete Simon Petrus und sprach: Du bist
Christus, des lebendigen Gottes Sohn!
17 Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist du, Simon, Jonas
Sohn; denn dein Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern
mein Vater im Himmel.
18 Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will
ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie
nicht überwältigen.
19 Ich will dir die Schlüssel des Himmelreiches
geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel
gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll
auch im Himmel gelöst sein.«
Bei Wilhelm
Nestle (1865-1959) fand ich einen Hinweis auf die
Einschätzung des Tübinger Theologen Daniel
Völter:
"Die Erweiterung des
Petrusbekenntnisses (Mk 8, 29, Lk 9, 20) durch die Antwort Jesu bei Mt
16, 17-19 nennt V ö l t e r »eine der
größten Geschichtsfälschungen im N.
T.« und »ein Elaborat der römischen Hierarchie«."
Auch der sog. "Missionsbefehl"
Jesu an seine Jünger ist eine Fälschung
In den letzten drei Versen des
Matthäusevangeliums, in Mt 28,18-20, ist ein weiterer
grundlegender Glaubensinhalt des organisierten Christentums
überliefert. Der auferstandene(!) Christus spricht dort zu
seinen Jüngern (in der revidierten Textfassung von 1984):
»18 Und Jesus trat
herzu und sprach zu ihnen: Mir ist gegeben alle Gewalt
im Himmel und auf Erden.
19 Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle
Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und
des heiligen Geistes
20 und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen
habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.«
Bei Karlheinz
Deschner (*1924) ist hierzu Folgendes zu lesen:
"Nach Auskunft der gesamten
kritischen Forschung erhielten auch die Apostel von Jesus keinen
Taufbefehl. Sind doch nicht einmal die Katholiken sich einig
darüber, wann er angeblich die Taufe eingesetzt hat. Der
trinitarische Auftrag des Matthäusevangeliums, »So
gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie auf den Namen
des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes ...«,
schon seit der Aufklärung immer wieder angezweifelt, ist eine
Fälschung."
Karlheinz Deschner beruft sich auf
namhafte Theologen, u. a. auf Bornkamm, Bultmann, Dibelius, Harnack,
Schweitzer.
Beim Theologen Martin Dibelius (1883-1947) habe
ich nachgeschaut. Er äußert sich in seinem Buch Die Formgeschichte des Evangeliums
nicht so direkt wie Karlheinz Deschner und kommt auch nicht zu
derselben klaren abschließenden Bewertung wie dieser.
Vielmehr spürt er vielen "Jesus-Worten in den kanonischen
Evangelien eine mythische Haltung ab". Er betont:
"Vor allem gilt das vom M i s s i
o n s b e f e h l des Auferstandenen Mt 28,18ff. Die Worte stehen in
keiner geschichtlichen Situation …."
Und er bekräftigt dann noch
einmal, dass er sie "als Rede einer mythischen Person" betrachte.
Der Theologe Gerd Lüdemann
(*1946) veröffentlichte in seinem in 2008 erschienen Buch Der erfundene Jesus eine
Zusammenfassung der wichtigsten "erfundenen Jesussprüche". Der
"Missionsbefehl" – zweifelsohne eine der folgenreichsten
Handlungsanweisungen früher Christen für die
nachfolgenden Generationen – gehört dazu (s.
auch Menüpunkt Jesus).
Zu einer ganz ähnlichen
Einschätzung kam der katholische Theologe Eugen Drewermann (*1940) – mit
Bezug auf den "Missionsbefehl" bei Mt – in einem Interview, das am 23.
Dezember 1991 im Magazin DER SPIEGEL zu lesen war:
"Was Jesus über Taufe
[...] gesagt haben soll, ist ihm lange nach seinem Tode zugeschrieben
worden. Taufen in aller Welt kann er schon deshalb nicht befohlen
haben, weil er an das nahe Weltende glaubte und sein Wirken auf Israel
beschränkte."
Im Übrigen sei hier
erwähnt dass die Jünger nur noch im Markusevangelium,
und zwar in dessen letztem Kapitel, einen ähnlichen
"Missionsbefehl" erhalten, wie in den letzten Versen des
Matthäusevangeliums. In Mk 16,15 steht:
»15 Und er sprach
zu ihnen: Gehet hin in alle Welt und predigt das
Evangelium aller Kreatur.«
Mehr als ein müdes
Achselzucken stellt sich kaum noch ein, wenn man sich
vergegenwärtigt, dass das sog. Markusevangelium
ursprünglich mit Vers 8 des 16. Kapitels endete. Der aus den
Versen 9 bis 20 bestehende "unechte
Markusschluss" wurde erst im 2. Jahrhundert
hinzugefügt!
Es bietet sich an, am Beispiel der oben zitierten Texte, auf einen der
zahlreichen Widersprüche in den Schriften des NT hinzuweisen:
Während die Jünger in den letzten Versen des
Matthäusevangeliums (Mt 28,18ff) beauftragt werden, »alle
Völker«
aufzusuchen, sind Jesus in einem früheren Kapitel desselben(!)
Evangeliums, wo es um »die Aussendung der
Jünger« geht, Worte in den Mund gelegt worden, die
den Jüngern klar und unmissverständlich vorschreiben,
nur zu ihren jüdischen Landsleuten zu gehen. In Mt 10,5-6 ist
überliefert:
»5 Diese
Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den
Weg zu den Heiden und zieht in keine Stadt der Samariter,
6 sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause
Israel.«
Die verheerenden Folgen des erfundenen
"Missionsbefehls"
In dem erst kürzlich neu erschienenen Buch Der Jesuswahn
des Theologen Heinz-Werner Kubitza (*1961) fand ich eine
bemerkenswerte Würdigung dieser Textstelle (Mt 28,18-20/s. oben). Kubitza beschreibt
diesen erfundenen Text als "ideologische Begründung zur
Heidenmission". Und er zeigt auf, warum er ihn für "eine der
weitestreichenden und schlimmsten Stellen des gesamten Neuen
Testaments" hält:
"Auch Kirchenferne
werden dieses Wort kennen, wenn sie schon einmal an einer christlichen
Taufe teilgenommen haben, wo es gerne verwendet wird.
Abendländern
fällt so meist auch nicht auf, dass hier der Anspruch auf Weltherrschaft
formuliert wird. Damit ist diese Stelle bei Matthäus eine der
weitestreichenden und schlimmsten Stellen des gesamten Neuen
Testaments. Denn nicht nur beim vergleichsweise harmlosen Taufen
kleiner Kinder ist dieses Wort verwendet worden, es war auch Taufpate
bei jedem Kampf gegen die "Ungläubigen", bei den Zwangstaufen,
die im Namen des Christentums durchgeführt wurden, bei der
Unterdrückung und Vernichtung fremder Kulturen und Religionen,
bei den Kriegen und der Ausplünderung ferner Länder
im Zeichen des Kreuzes. Was
für den orthodoxen Marxismus die Ideologie der Weltrevolution,
war für die Christen die Ideologie der Weltmission,
die fast immer einher ging mit Herrschaft und Unterdrückung. Und
man darf hinzufügen: Die Christen waren nicht nur viel
früher da, sie waren auch erfolgreicher als der
"Bolschewismus", vor dem gerade die Kirchen immer eindringlich warnten,
freilich ohne die Ähnlichkeiten ihrer Ideologie mit der ihres
profanen Konkurrenten zu erkennen. […]
Der mächtigste
Dämpfer gegen diese Form eines christlichen Imperialismus
kommt wieder einmal von der neutestamentlichen Forschung, die das
Jesuszitat, in dessen Namen so viel Leid und Blut in die Welt kam, als
Erfindung des Evangelisten Matthäus erwiesen hat. Ganz abgesehen davon, dass die
Erzählungen der Evangelisten vom Auferstandenen in der
Forschung alle als Legenden gelten, denen kein
Anhalt in der realen Welt zukommt."
Anmerkung
Hervorhebungen im
Zitat stammen vom Autor der Site.
Jeder, der sich mit der (Unrechts-)Geschichte
des Christentums und seiner Kirchen befasst hat, findet die
Ausführungen Kubitzas einleuchtend. Dadurch, dass er die
ideologisch prägende Wirkung des "Missionsbefehls" auf Seiten
des Christentums in einen weltgeschichtlichen
Zusammenhang mit der analogen Ideolgie des "Bolschewismus" stellt, kann
allerdings der Eindruck entstehen, dass dieses erfundene Wort ganz allein
für die unheilvolle Geschichte des Christentums verantwortlich
sei.
M. E. lässt sich die
"Kriminalgeschichte" des Christentums, die gekennzeichnet ist von einer
unüberschaubaren Fülle ungeheuerlicher Verbrechen,
jedoch nicht aus der unheilvollen Wirkung nur eines isoliert
betrachtenen Wortes herleiten. Ich sehe den erfundenen "Missionsbefehl"
zwar als eine wichtige, aber eben nur als eine
unter anderen "schlimmsten Stellen" des Neuen Testamentes. Daher ist
seine Wirkung wohl eher als Teil der Gesamtwirkung all dieser Stellen
zu betrachten.
Gleichwohl ist es für mich,
aus heutiger Sicht, nach wie vor unfassbar, dass erfundene
Worte, die der gleichfalls erfundenen
"Kunstfigur" Christus vor nahezu 2000 Jahren in den Mund gelegt wurden,
eine derart weitreichende unheilvolle Wirkung entfalten konnten.
Lüge und Betrug galten als
legitime Mittel "zum Zweck des Seelenheils"
Nach Karlheinz Deschner
(1924-2014) war es in der frühen Kirche offenbar nicht
ungewöhnlich, Lüge und Betrug als legitime Mittel im
Zusammenhang mit der Verkündigung der christlichen Lehre
anzuwenden:
"…, plädiert
selbst einer der edelsten Christen, Origines,
mit aller Entschiedenheit für Betrug und Lüge als
»Heilmittel«. Und Kirchenlehrer Johannes Chrisostomos
(…) propagierte die Notwendigkeit der Lüge zum
Zweck des Seelenheils unter Berufung auf Beispiele des Alten und Neuen
Testaments."
Wie in anderen
Zusammenhängen, scheint Paulus auch hier Vorbild und
Ideengeber gewesen zu sein. In dem als echt
geltenden Brief des Paulus an die Philipper
heißt es im Kapitel 1, Vers 18:
»18 Was tut's
aber? Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise, es
geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich
darüber.«
Wen wundert's, dass das Christentum
manchen als eine unwahrhaftige Religion gilt? Und wen wundert es dann
noch, dass die führenden Repräsentanten dieser
Religion, in ihrem Reden und Handeln oder besser: in den
häufigen Widersprüchen zwischen ihrem Reden und
Handeln, als genauso unwahrhaftig eingeschätzt werden?
– Wahrscheinlich ist das ein systemimmanentes Problem.
Kanonisierung der Schriften des Neuen Testaments
Wie kam es zu der heute noch
gültigen Zusammensetzung des NT? Auslösendes
Moment für die Zusammenstellung eines Schriftenkanons
für die urchristliche Kirche waren die Aktivitäten
eines frühchristlichen "Ketzers": Markion,
auch Marcion (um 85–160), prominentes Mitglied und Finanzier
der christlichen Gemeinde in Rom, erstellte einen ersten Kanon, der aus dem
Lukasevangelium und aus zehn Paulusbriefen bestand. Da Markion
annahm, dass judaistische
Gegner des Paulus die Schriften verfälscht hätten,
verwendete er einen "literarkritisch gereinigten Text" (Gerd Theißen).
Diese Verfahrensweise Markions ist eine Beispiel dafür, wie
unbefangen überlieferte Texte in der Frühzeit des
Christentums "bearbeitet" wurden.
Als Reaktion auf Markion
fand nach Gerd
Theißen (*1943) die Kanonbildung etwa zwischen 140
und 180 n. Chr. statt. Es handelte sich um einen heute kaum
nachvollziehbaren komplexen Prozess. Gerd Theißen versucht
dennoch eine Identifizierung der in diesem Prozess wirksamen
Kräfte:
"Daher kann man die Hypothese
aufstellen: Es gingen vor allem die Schriften in den Kanon ein, über
die sich die christlichen Gemeinden in Kleinasien und Rom einigen
konnten. Abseits von der Kanonbildung lagen dagegen Syrien und
Palästina, die Kernländer des Urchristentums im 1.
Jh. Im 2. Jh. hatte sich sein Zentrum u. a. aufgrund der paulinischen
Mission nach Westen verschoben. Jerusalem und Antiochien wurden
abgelöst durch Rom und Ephesus. Entsprechend wurden jetzt in
Syrien entstandene Schriften nach «Westen»
umlokalisiert: Das MkEv wurde nach Irenäus in Rom
geschrieben, das JohEv in Ephesus. Andere Schriften aus dem syrischen
Christentum wie die Didache oder die judenchristlichen
Evangelien gelangten dagegen nicht in den Kanon. Sie hatten
in den entscheidenden Zentren Kleinasien und Rom keine
Fürsprecher."
Es drängt sich der
Eindruck auf, dass bei der Kanonisierung nicht nur inhaltliche Fragen,
sondern insbesondere auch die innerkirchlichen
Machtverhältnisse eine entscheidende Rolle gespielt haben.
Dabei zeigt sich, dass, wie schon bei der inhaltlichen
Textüberlieferung, auch bei der Kanonisierung historische
Korrektheit überhaupt keine Bedeutung hatte. Anders ist nicht
zu verstehen, dass u. a. die ursprünglichen Entstehungsorte
der Schriften "umlokalisiert", d. h. gefälscht wurden.
Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit besaßen für die
führenden Köpfe der frühen Kirche ganz
offensichtlich keinerlei ethische Relevanz.
Der neutestamentliche Kanon, in der bis heute
gültigen Zusammensetzung aus 27 Schriften, "ist zum ersten Mal
durch den 39. Osterfestbrief des Metropoliten Athanasius von Alexandrien (um
298-373) im Jahre 367 belegt" (Gerd Theißen).
Neben den 27 kanonisierten Schriften
des NT gab es im Urchristentum eine Reihe weiterer Texte, u. a. auch
aus dem Bereich einer mit dem Christentum verwandten
religiösen Bewegung, der Gnosis oder dem Gnostizismus.
Letztere finden ihre besondere Ausprägung z. B. in den Nag-Hammadi-Schriften, die 47
unterschiedliche Texte enthalten, darunter das sog. Thomasevangelium.
Anhand der mir verfügbaren
Literatur lässt sich zusammenfassend sagen, dass das Neue
Testament, die eigentliche Bibel der Christen, sowohl in seiner
inhaltlichen Überlieferung als auch in seiner Struktur, als
ein Werk der frühen Kirche zu betrachten ist.
Kritik
an der Kanonisierung
In seinem Buch Das Unheilige in der Heiligen
Schrift übt der Theologe Gerd
Lüdemann (*1946) Kritik an der Kanonisierung der
NT-Schriften. Er protestiert dort gegen die "faktisch vorgenommene
Harmonisierung der biblischen Schriften" und stellt fest: "Denn in der
Bibel steht vieles nebeneinander, was ursprünglich einander
ausschließen sollte." Er weist z. B. auf den
gefälschten Zweiten Brief an die Thessalonicher
hin (s. auch hier).
Dessen Schreiber habe ihn "von vornherein als Ersatz des Ersten
komponiert und dreist diesen selbst eine Fälschung genannt, um
den Erfolg seines Unternehmens sicherzustellen."
Zu den Evangelien, den
Kernbestandteilen des NT, bezieht Lüdemann in diesem
Zusammenhang folgende Position:
"Ferner kommt hinsichtlich der
vier Evangelien der begründete Verdacht auf, dass das
Johannesevangelium die drei älteren Evangelien,
Matthäus, Markus und Lukas, nicht ergänzen, sondern ersetzen
wollte […]. Matthäus und Lukas wiederum haben das
Markusevangelium benutzt, nicht etwa, damit es fortan mehrere
Evangelien nebeneinander gebe, sondern um ihrer jeweiligen Kirche die eine
gültige Evangelienschrift zu bieten."
Er formuliert dann nach weiteren
Überlegungen, unter Einbeziehung eines "Votums" des Theologen Franz Overbeck (1837-1905), seine
Schlussfolgerung:
"In dem Moment, in dem die
biblischen Dokumente kanonisiert wurden, haben sie jedoch als
Einzelzeugnisse zu existieren aufgehört. Vgl. das Votum von
Franz Overbeck:
»Es liegt im Wesen
aller Kanonisation, ihre Objekte unkenntlich zu machen, und so kann man
dann auch von allen Schriften unseres neuen Testamentes sagen, dass sie
im Augenblick ihrer Kanonisierung aufgehört haben, verstanden
zu werden. Sie sind in die höhere Sphäre einer ewigen
Norm für die Kirche versetzt worden, nicht ohne dass sich
über ihre Entstehung, ihre ursprüngliche Beziehungen
und ihren ursprünglichen Sinn, ein dichter Schleier gebreitet
hätte«.
Was gilt also? Die Einzeldokumente
lesen und zu verstehen suchen? Dann gehört der Kanon
abgeschafft. Die Dokumente im Rahmen des Kanons lesen […]?
Dann betreiben wir eine Auslegung gegen die einzelnen Zeugnisse, was
aus Respekt vor den damals schreibenden und sprechenden Personen
auszuschließen ist. Die Ausweglosigkeit des heutigen Umgangs
mit der Bibel im wissenschaftlichen, aber auch im offiziellen
kirchlichen Raum schreit förmlich nach einem anderen Zugang zu
ihr."
Für mich belegt die
vorliegende Kritik an der Kanonisierung unterschiedlicher, z. T. sich
widersprechender Schriften im NT einmal mehr die sklavische
Abhängigkeit der vorherrschenden Theologie bzw. der aktuell
tonangebenden Theologen von althergebrachten, nicht hinterfragten,
Festlegungen der alten Kirche, denen eine "Autorität" von
dogmatischem Rang zugebilligt wird. Dabei ist der noch heute
unverändert beibehaltene NT-Kanon eine Reaktion auf die
für die alte Kirche bedrohlichen Aktivitäten des
"Ketzers" Marcion (um 85-160), der Mitte des
2. Jahrhunderts eine eigenständige Kirche gründete,
eine ebenso eigenständige Theologie entwickelte und als erster
einen Kanon festlegte (s. oben).
Die, nicht nur hier, ins Auge
springende Zeitbedingtheit bestimmter
Festlegungen ist für die führenden Köpfe des
organisierten Christentums kein Grund
für eine längst überfällige
Überprüfung bzw. Revision. Das an anderer Stelle
beschriebene Denk-Getto
der Theologie (s. hier)
bleibt also, nach wie vor, die bevorzugte geistige Heimat der
kirchlichen Führer und Vordenker.
Die
Bibel – Wort Gottes?
Auf dem Hintergrund
der Erkenntnisse aus meinen bisherigen Recherchen, die sich u. a. auf
die Überlieferungsgeschichte und die Kanonisierung der
neutestamentlichen Schriften bezogen, erscheint mir die in der
Überschrift enthaltene Frage als kaum noch relevant, fast
schon als abwegig. Dennoch möchte ich mich hier kurz mit ihr
befassen.
Antworten des
ehemaligen Chefs einer evangelischen Landeskirche
In der Ausgabe 11/2005 von zeitzeichen,
Kulturmagazin der evangelischen Kirche, war ich über ein
Interview mit dem damaligen Chef einer evangelischen Landeskirche
gestolpert. Es ging um die Frage, ob die Bibel Gottes Wort sei. Auf die
Eingangsfrage "Herr …, ist die Bibel das Wort
Gottes?" antwortete der Interviewte kurz und
bündig: "Nein." Auf die Nachfrage "Wie bitte?"
gab er dann eine für Theologen typische Antwort: "Die Bibel
ist nicht mit dem Wort Gottes identisch. Das Wort Gottes ist kein Buch,
sondern lebendiges Geschehen." In diesem Stil ging das Interview
weiter.
Gegen Ende des Interviews wurde die
der Bibel von der Kirche zugemessene Autorität thematisiert.
Der Interviewte sagte u. a.: "Die Kirche hat sich als Werk des Heiligen
Geistes als an die Bibel gebunden verstanden." Auf die nächste
Frage "Sie messen der Bibel also eine Autorität zu,
weil Sie der Entscheidung der Kirche für die Bibel vertrauen?"
antwortete er "Ich vertraue dem Werk des Heiligen Geistes, das in der
Entscheidung der Kirche für die Bibel sichtbar geworden ist."
Dem kritischen Einwurf eines der zeitzeichen-Mitarbeiter
"Das klingt katholisch" widersprach der
Interviewte und bekräftigte seine Meinung: "Nein, das ist
durch und durch protestantisch. Die Entscheidung, bestimmte Schriften
in die Bibel aufzunehmen, andere aber nicht, verstehen wir als eine
Wirkung des Heiligen Geistes."
Wenn man auf die Geschichte der
fragwürdigen Entstehung und Überlieferung der
neutestamentlichen Schriften und auf den ebenso fragwürdigen
Entscheidungsprozess bis zu ihrer Kanonisierung blickt, dann
bestätigt das wolkige Theologen-Gerede in
»verquastem Stammesidiom« (Friedrich Wilhelm Graf)
von der "Wirkung des Heiligen Geistes" einmal mehr das dem
organisierten Christentum immanente »defizitäre
Ethos der Wahrhaftigkeit, der intellektuellen Redlichkeit« (Franz Buggle).
Altes
Testament – durchwabert von "Nebelschwaden von Theologenhand"?
Da sich diese Website primär mit dem Christentum befasst,
stand bisher das Neue Testament im Mittelpunkt des Interesses. Wenn
nunmehr von der »Bibel« die Rede ist, ist es
unvermeidlich, auch einen Blick auf das Alte Testament bzw. die
»Hebräische Bibel«, die Grundlage der
jüdischen Religion, zu werfen.
Tatsache ist, dass die
frühen Christen ihre Wurzeln in der jüdischen
Religion hatten. Daher verwundert es nicht, dass die ersten Verfasser
der neutestamentlichen Schriften, insbesondere zur Stützung
ihrer Glaubensmeinungen über die Gestalt des
»Messias« bzw. des »göttlichen
Christus«, nach möglichen
»Weissagungen« im Alten Testament fahndeten.
Selbstverständlich wurden sie fündig: Es war
für sie ja ein Leichtes, die Querverbindungen zwischen den von
ihnen erfundenen Worten, Taten und
Lebensumständen ihres
»Heilands« und geeigneten Fundstellen im Alten
Testament literarisch herzustellen. So wurde die
Hebräische Bibel ganz selbstverständlich zum
integrierten Bestandteil ihrer eigenen Glaubensgrundlagen.
Der Theologe Gerd Lüdemann (*1946)
bekundete ganz offen, ihm sei schon in den ersten Semestern seines
Theologiestudiums vermittelt worden, dass eine Beziehung zwischen
"messianischen Weissagungen" im Alten Testament und (der Kunstfigur)
Christus im Neuen Testament nicht hergestellt werden kann. Er folgerte
daraus:
"Somit ist die kirchliche Deutung
des Alten Testaments auf Christus hin reine Willkür."
Die meisten Christen ahnen selbst
heute noch nicht, was sich ihre frühchristlichen Vorfahren
damals so eigenmächtig aneigneten: Die historisch-kritische
Erforschung des Alten Testaments hat längst gezeigt, dass die
darin enthaltene Geschichte Israels "erfunden" ist. Die
alttestamentliche Überlieferung stimmt mit den auf
wissenschaftlichem Wege gewonnenen Erkenntnissen nicht
überein. Lüdemann fasst die einschlägigen
Forschungsresultate lapidar so zusammen:
"Das in der Bibel entworfene Bild
des vorstaatlichen Israel (vor 1000 v. Chr.) entspringt theologischen
Fiktionen aus der nachstaatlichen Zeit (ab dem 6. Jahrhundert v.
Chr.)."
An dieser Stelle muss noch ein
weiterer Aspekt erwähnt werden: die im Alten Testament
überlieferten unzähligen Gräueltaten. Diese
werden dort entweder vom Gott »Jahwe«
selbst oder von den »Kindern Israels« in seinem
Auftrag verübt. Heute wissen wir, dass sich in diesen
Schilderungen blutrünstige Gewaltfantasien der damaligen
jüdischen Theologen spiegeln.
Anhand eines spezifischen
alttestamentlichen Textes, der auf dieser Website schon einmal aus
anderer Perspektive betrachtet wurde, kann darüber hinaus
gezeigt werden, dass die jüdischen Theologen ganz unbefangen
auch aus nicht-religiösen Textquellen von Nachbarkulturen
schöpften. Es handelt sich um einen Abschnitt im 5. Buch Mose
(s. hier). Im Buch Warum ich kein Christ sein will
von Uwe Lehnert (*1935) fand ich dazu
einen aufschlussreichen Hinweis:
"Dass solche Texte den Zwecken
einer machtorientierten Priesterschaft bzw. der ihnen
übergeordneten weltlichen Macht dienten und
tatsächlich von ihnen stammten, konnten historische
Untersuchungen inzwischen bestätigen. Der katholische
Alttestamentler Othmar Keel führt dazu
Folgendes aus:
»Die Forschung hat in
letzter Zeit immer deutlicher gezeigt, dass dieser beunruhigende Text
teilweise wörtlich assyrische Texte kopiert – nicht
religiöse, sondern politische. Das im nördlichen Irak
beheimatete, expansive Assyrerreich hat die von ihm unterworfenen
Könige eidlich verpflichtet, nur dem assyrischen
Großkönig zu dienen und jeden und jede
unverzüglich zu denunzieren, die sie dazu überreden
wollten, vom Großkönig von Assur abzufallen. Solche
Vasallitätsverpflichtungen mussten eine Zeitlang auch die
judäischen Könige in Jerusalem
übernehmen.«"
Schon nach diesem
flüchtigen Blick auf das Alte Testament stellt sich die
naheliegende Frage: Kann das organisierte Christentum mit diesem
wichtigen Teil seiner Glaubensgrundlagen weiterhin so naiv umgehen wie
bisher? Folgerichtig konstatiert der Theologe Gerd Lüdemann (*1946)
"für den christlichen Glauben […] ein Dilemma":
"Wenn nämlich der
historische Rahmen der Geschichtsbücher des Alten Testaments
fiktiv ist und es sich beim biblischen Israel, ja selbst bei dem
exklusiven Gott Jahwe um theologische Konstrukte handelt, dann sind die
biblische Frühgeschichte Israels und damit die Vorgeschichte
Jesu Christi vollständig entleert. Sie lösen sich in
Nebel auf und mit ihnen bekanntlich auch das neutestamentliche
Zentraldatum der Auferstehung Jesu, die als Vision erkannt wurde.
Dadurch aber ist der Glaube faktisch falsifiziert. Mir scheint, dass
das Grundübel des kirchlichen Bekenntnisses in der Bindung des
Glaubens an Geschichte liegt, umso mehr, als Geschichte im Neuen und
Alten Testament, wie deutlich wurde, reine Fiktion ist."
Das Alte Testament kann also
redlicherweise nur als das betrachtet werden, was es für
aufgeklärte Menschen schon immer war, ein ehrwürdiges
Stück uralter Weltliteratur aus der jüdischen bzw. aus der vorderasiatisch-orientalischen Frühgeschichte.
Anmerkungen
- Die Lüdemann-Zitate sind einem Artikel in Publik-Forum
vom 03. November 2006 entnommen. Der Titel des Artikels lautete Nebelschwaden von Theologenhand
und der Untertitel Die Geschichte Israels ist erfunden, die
Relevanz des Alten Testaments für Christen fraglich: eine
theologische Provokation.
- Zu der von Lüdemann erwähnten "Bindung des Glaubens
an Geschichte" findet sich bei Gustav
Wyneken eine interessante Argumentation (s. hier).
Antworten
der römischen Konfession
Will man Antworten von der römischen Konfession, dann bietet
sich der Blick in den KKK an, in jenes
unüberbietbare Elaborat ihrer theologischen Vordenker.
Im zweiten Teil des KKK,
der sich mit dem "Glauben" befasst, finden sich in ARTIKEL 3 unter der
Überschrift DIE HEILIGE SCHRIFT folgende römische
Glaubensmeinungen:
II Inspiration und Wahrheit der
Heiligen Schrift
105 Gott ist der Urheber
[Autor] der Heiligen Schrift. „Das
von Gott Geoffenbarte, das in der Heiligen Schrift schriftlich
enthalten ist und vorliegt, ist unter dem Anhauch des Heiligen Geistes
aufgezeichnet worden.“ […]
[…]
107 Die inspirierten
Bücher lehren die Wahrheit.
„Da also all das, was die inspirierten Verfasser oder
Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt gelten muss,
ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, dass sie sicher,
getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles
willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte“ (DV
11) (Vgl. dazu auch 702).
[…]
Das Alte Testament
121 Das Alte Testament ist ein
unaufgebbarer Teil der Heiligen Schrift. Seine Bücher sind von
Gott inspiriert und behalten einen dauernden Wert [Vgl. DV 14], denn
der Alte Bund ist nie widerrufen worden (Vgl. dazu auch 1093).
[…]
Das Neue Testament
124 „Das Wort Gottes,
das Gottes Kraft zum Heil für jeden, der glaubt, ist, zeigt
sich und entfaltet seine Kraft auf vorzügliche Weise in den
Schriften des Neuen Testamentes“ (DV 17). Diese Schriften bieten uns die
endgültige Wahrheit der göttlichen Offenbarung. Ihr
zentrales Thema ist Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes,
seine Taten, seine Lehre, sein Leiden und seine Verherrlichung, sowie
die Anfänge seiner Kirche unter dem Walten des Heiligen
Geistes [Vgl. DV 20].
[…]
126 Bei der Bildung der Evangelien
lassen sich drei Stufen unterscheiden:
1. Das Leben und die
Lehrtätigkeit Jesu. Die Kirche hält
entschieden daran fest, dass die vier Evangelien,
„deren Geschichtlichkeit sie ohne Bedenken bejaht, zuverlässig
überliefern, was Jesus, der Sohn Gottes, in seinem Leben unter
den Menschen zu deren ewigem Heil wirklich getan und gelehrt hat
bis zu dem Tag, da er [in den Himmel] aufgenommen wurde“.
[…]
3. Die Abfassung der Evangelien.
„Die heiligen Verfasser aber haben die vier Evangelien
geschrieben, […], [doch] immer
so, dass sie uns Wahres und Aufrichtiges über Jesus mitteilten“
(DV 19) (Vgl. dazu auch 76).
KURZTEXTE
134 „Die
ganze Heilige Schrift ist ein einziges Buch, und dieses eine Buch ist
Christus, denn die ganze göttliche
Schrift spricht von Christus, und die ganze
göttliche Schrift geht in Christus in
Erfüllung“ […].
135 „Die
Heiligen Schriften enthalten das Wort Gottes, und weil inspiriert,
sind sie wahrhaft
Wort Gottes“
(DV 24).
136 Gott ist der Urheber [Autor] der
Heiligen Schrift: er hat ihre menschlichen Verfasser [Autoren]
inspiriert; er handelt in ihnen und durch sie. Er
verbürgt somit, dass ihre Schriften
die Heilswahrheit irrtumsfrei lehren
[Vgl. DV 11].
[…]
138 Die 46 Bücher
des Alten und die 27 Bücher des Neuen Testamentes werden von
der Kirche als inspiriert angenommen und verehrt.
Anmerkungen
- DV 11, DV 14, … = Hinweise auf Artikel in
"Dei Verbum",
der "Dogmatischen Konstitution über die Göttliche
Offenbarung". Sie wurde vom II. Vatikanischen Konzil in 1965
beschlossen.
- Hervorhebungen in den KKK-Artikeln
stammen vom Autor der Site.
Der eben riskierte Blick auf einige
literarische Kleinodien aus dem römischen Reich der
unerschöpflichen Fantasie machte mich beinahe sprachlos. Mir
kam unwillkürlich ein Wort von Heinrich Heine (1797-1856) in den
Sinn: "…, ärgert dich deine Vernunft, so werde
katholisch."
Wie unverfroren die
römischen Vordenker die Realität vollkommen
ausblenden und in jener typischen Sprache, die ausschließlich
im Denk-Getto der Theologie gepflegt wird, über die Entstehung
und Überlieferung der "Heiligen Schrift" und des darin
enthaltenen "Wort Gottes" fantasieren und ungeniert behaupten "Gott
ist der Urheber [Autor] der Heiligen Schrift: [….] Er
verbürgt somit, dass ihre Schriften die Heilswahrheit
irrtumsfrei lehren" (s. KKK 136) ist unfassbar: Die
Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung werden von ihnen
schlicht ignoriert.
Woher nehmen die Vordenker der
römischen Konfession ihre Selbstgewissheit oder vielmehr ihre
grenzenlose Chuzpe, den "Gläubigen" – von der Wiege
bis zur Bahre – vernunftwidrige Glaubensmeinungen
als verbindliche, von "Gott geoffenbarte" Glaubenswahrheiten
für deren "christliche" Lebenspraxis aufzuschwatzen?
Gäbe es einen
»Oscar« in der Kategorie beste weltweite
Vermarktung von archaisch-infantilem Gedankengut, die
römische Konfession hätte keine Konkurrenz zu
fürchten.
"Umgang"
mit der Bibel
Vor einiger Zeit stieß ich auf eine
Äußerung des jüdischen Religionsphilosophen
Pinchas Lapide (1922-1997)
über den "Umgang mit der Bibel":
"Es gibt im Grunde nur zwei Arten
des Umgangs mit der Bibel: Man kann sie wörtlich nehmen
– oder man nimmt sie ernst. Beides zusammen verträgt
sich nur schlecht."
Ich weiß nicht, ob ich die
Gedanken von Pinchas Lapide in seinem Sinne interpretiere: M. E. nimmt
man die Bibel ernst, wenn man sie als das nimmt, was sie ist, ein
ehrwürdiges literarisches Weltkulturerbe mythischen
Charakters. Man nimmt sie also ernst als das, was sie damit auch ist: Fiktion,
bei deren Interpretation literaturwissenschaftliche und
literaturkritische Methoden anwendbar sind.
Natürlich gibt es auch
heute noch viele Theologen, insbesondere unter den Vordenkern der
römischen Konfession, die vehement bestreiten, dass es sich
bei ihrer "Heiligen Schrift" bzw. ihrem
»Wort Gottes« um Fiktion handele: Sie nehmen es
gemäß der Weisung des KKK "wörtlich",
wörtlicher geht's nicht –
intellektuell unredlicher leider auch nicht.
Schlussbetrachtung
Die zahlreichen übernatürlichen Geschehnisse in der
Bibel oder besser: die anschauungs- und vernunftwidrige Darstellung der
Geschichte eines archaischen «Gottes» mit seinen
Menschen, und die vielen Widersprüche zwischen den Texten
lassen nur einen Schluss zu: Die Bibel, in archaischer Vorzeit von
fantasiebegabten Menschen erdacht und über Jahrtausende auf
fragwürdige Weise auf uns überliefert, ist pures
Menschenwerk ohne aktuelle Relevanz: weder für die
Erklärung der Welt noch als ethische Richtschnur für
menschliches Handeln.
Dennoch gibt es einflussreiche
Institutionen, die ihren sog. Gläubigen etwas völlig
anderes weismachen. Die ihnen vor allem das Bild von einem
"allwissenden", "allmächtigen" und "liebenden"
«Gott» vermitteln. Wenn man einmal annimmt, dass es
diesen "allwissenden", "allmächtigen" und "liebenden"
«Gott», der menschliche Maßstäbe
unendlich weit übersteigen soll, tatsächlich gibt,
dann drängt sich doch eine einfache Frage auf: Warum ist
»Sein Wort« dann nicht widerspruchsfrei, wahrhaftig
und ethisch über jeden Zweifel erhaben? Die Antwort kann nur
lauten: weil die Konstruktion dieses «Gottes»
ebenso Menschenwerk ist, wie das ihm zugeschriebene
«Wort».
Im Buch Warum ich kein Christ sein will
von Uwe Lehnert (*1935) fand ich eine
vom amerikanischen Politiker und Freidenker Robert G. Ingersoll (1833-1899)
formulierte Frage, die das Groteske an der christlichen, insbesondere
an der römisch-christlichen Glaubensmeinung über das
»Wort Gottes« grell aufscheinen lässt:
»Wenn die Bibel und mein
Verstand vom selben Schöpfer stammen, wessen Schuld ist es
dann, dass sich die Bibel und mein Verstand einfach nicht vertragen
können?«
Am Ende dieses Abschnitts sei erneut
ein Wort des Theologen Franz Overbeck (1837-1905)
zitiert. Es fand auf dieser Website zwar schon an anderer Stelle
Verwendung, erscheint mir hier aber ebenfalls als geeignetes
Schlusswort:
"Der Glaube, es lasse sich
für Menschen mit Gott und in seinem Namen alles machen, mit
ihm finde man sich vollkommen in der Welt zurecht, man fahre damit am
besten, ist unter Menschen, welche der Welt Nachdenken gewidmet haben,
nur der Glaube der Theologen gewesen. Sonst haben gerader
Menschenverstand und höchste Weltsicht stets entgegengesetzt
gedacht."
Anmerkung
Hervorhebung im
Overbeck-Zitat stammt vom Autor der Site.
Dogmen und andere Glaubensmeinungen
Wegen seines Umfangs und seiner
Struktur ist dieser wichtige Teilaspekt der Geschichte des Christentums
auf eine eigene Seite ausgelagert:
>>> Dogmen <<<
Verhalten der Kirche(n) gegenüber Andersdenkenden
Schon im 1. Jahrhundert n. Chr.,
also schon zur Zeit der Entstehung der im Neuen Testament
zusammengefassten Schriften, wurden Kritiker der christlichen Lehre Häretiker
genannt. Später wurden sie auch mit dem, meist synonym
verwendeten, Begriff Ketzer bezeichnet.
Mit der sog. Konstantinischen Wende,
am Beginn des 4. Jahrhunderts n. Chr., vollzog sich ein dramatischer
Wandel im Verhalten der frühen Kirche gegenüber
Christen und Nichtchristen, die sich ihrem Machtanspruch widersetzten.
Dies sei im Folgenden durch eine differenzierte Betrachtung der
Zeitabschnitte vor und nach
diesem Ereignis verdeutlicht.
Vor
der Konstantinischen
Wende
Der Theologe Walter Nigg (1903-1988) stellt in
seinem Werk Das Buch der
Ketzer fest, dass das "Ketzerproblem" im
Urchristentum noch keine Rolle spielte. Im Umfeld des "urchristlichen
Enthusiasmus" (Anm.:
wegen der Naherwartung des Reiches Gottes)
konnte es sich noch nicht entwickeln. Beim Übergang vom
Urchristentum zur alten Kirche wurden Andersdenkende wohl zunehmend
wahrgenommen. In dieser Phase wirkte, so Walter Nigg,
"zunächst noch das Licht
der christlichen Liebesgesinnung nach, die sich auch dem
Andersdenkenden gegenüber zu bewähren hat."
Walter Nigg zitiert u. a. den
christlichen Schriftsteller Tertullian
(um 150 – um 230), der leidenschaftlich die Auffassung
vertrat,
"»dass man keinen
Menschen zu einer religiösen Funktion zwingen dürfe,
weil das im Widerspruch zum Wesen des Glaubens sei«."
In dieser Phase hat sich das
Christentum mit seinen Kritikern durchaus auch argumentativ
auseinandergesetzt. Als ein Beispiel hierfür sei die Befassung
des Theologen und Kirchenschriftstellers Origines
(185-254) mit den Thesen des platonischen Philosophen Celsus (Anm.:
kein eigentlicher "Ketzer", da kein Christ),
dem wohl härtesten Kritiker des Christentums im 2.
Jahrhundert, genannt. Später ließ die Kirche die
Schriften dieses Kritikers ausnahmslos vernichten. Über Leben
und Werk dieses Philosophen ist daher sehr wenig bekannt. Lediglich die
von ihm um 178 verfasste Schrift Das wahre Wort
lässt sich aus den Gegenargumenten des Origines rekonstruieren.
Nach
der Konstantinischen
Wende
Aufgrund der neuen Rahmenbedingungen nach der Wende wuchsen nicht nur
Macht und Einfluss der alten Kirche. Sie führten auch zu einer
zunehmenden Verquickung von geistlichen und weltlichen
Machtansprüchen. Die Kombination dieser Faktoren
führte dazu, dass aus den ehemals Verfolgten zunehmend
Verfolger wurden.
Vom Theologen Ernst Troeltsch (1865-1923) gibt
es eine erschütternde Aussage über die
fragwürdige Handlungsweise der führenden
Köpfe der frühen Kirche (gefunden bei Martin Werner).
Anstatt die Gunst der "Konstantinischen Wende" zu nutzen, um den
antiken Zeitgenossen, neben der "Botschaft des Evangeliums", etwa
christlich-ethische Normen zu vermitteln, erlagen sie der Versuchung,
ihre neue Machtfülle, ganz und gar unethisch, zu missbrauchen:
"Aus der Reform Konstantins ging
keine wirkliche Verchristlichung der Gesellschaft hervor, und die
Politik der Bischöfe bedeutete immer nur eine
geistig-persönliche Einflussnahme auf die Imperatoren zum
Zwecke der Privilegierung der Kirche und der Unterdrückung
ihrer Feinde."
In Das
Buch der Ketzer zitiert Walter
Nigg (1903-1988) auch eine Äußerung des
römischen Kaisers Julian Apostata
(331-363):
"»..., dass kein wildes
Tier so grausam gegen Menschen verfahre wie Christen gegen andere
Christen«."
Darin spiegelt sich die schon zu
Beginn der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts dramatisch
veränderte Situation.
Von einem Kirchenvater, der diese
veränderte Situation aus eigenem Erleben kannte, berichtet
Walter Nigg:
"Der edle Chrysostomus (349–407)
hat die blutige Bekämpfung der Ketzer unzweideutig als
unsühnbaren Frevel bezeichnet und die geradezu hellseherische
Warnung ausgesprochen: »Darum ist es auch nicht erlaubt, den Häretiker zu
töten, weil man sonst einen unversöhnlichen Krieg
über die Welt brächte«."
Die Konstantinische Wende
ist für Walter Nigg die
"konstantinische Versuchung":
"Die verhängnisvolle
Bahn, welche die Christen nach ihrem Erliegen unter der
konstantinischen Versuchung auf dem Gebiet der Ketzerbehandlung
beschritten hatten, führte mit innerer Notwendigkeit zu einem
katastrophalen Resultat."
Ganz ähnlich argumentiert
der Schriftsteller Carl Amery
(1922-2005):
"Eine Bürde hatten die
Christen vor dem Ende der Verfolgung und vor dem Mailänder Dekret nicht zu
tragen: Verantwortung. Verantwortung nämlich für die
raumzeitliche Kontinuität des Reiches in der Welt,
Verantwortung für die Errungenschaften der
römisch-hellenistischen Zivilisation. Vom Standpunkt der
Kaiser aus war es deshalb nur vernünftig, dieser
großen und gefährlichen Minderheit solche
Verantwortung aufzubürden. Das uralte Problem der
»schmutzigen Hände« ist hier zum ersten
Mal – und wohl nie mehr in schärferer Form
– aufgetaucht."
Ein
Kirchenlehrer und ein Reformator im Gleichschritt gegen Ketzer
In der Reimbibel
von Wolfgang
Klosterhalfen (*1945) fand ich bezeichnende, gegen
Andersdenkende gerichtete, Äußerungen von zwei
– leider – sehr einflussreichen "Heroen" der
Christentums- und Kirchengeschichte, von Thomas von Aquin und Martin
Luther.
Thomas von Aquin (1225-1274),
einer der wichtigsten "Kirchenlehrer" der römischen
Konfession, sagte:
"Was
die Ketzer anlangt, so haben sie sich einer Sünde schuldig
gemacht, die es rechtfertigt, dass sie nicht nur von der Kirche
vermittels des Kirchenbannes ausgeschieden, sondern auch durch die
Todesstrafe aus dieser Welt entfernt werden."
Und der Reformator Martin Luther (1483-1546), Urheber
des Protestantismus, dem u. a. die Legende von den 95 Thesen an der
Tür der Wittenberger Schlosskirche anhaftet, wollte dem
berühmten Kirchenlehrer der verhassten römischen
Kirche offenbar nicht nachstehen. In den
berühmt-berüchtigten "Tischreden" ist seine Position
gegenüber Ketzern so überliefert:
"Mit
Ketzern braucht man kein langes Federlesen zu machen, man kann sie
ungehört verdammen. Und während sie auf dem
Scheiterhaufen zugrunde gehen, sollte der Gläubige das
Übel an der Wurzel ausrotten und seine Hände in dem
Blute der Bischöfe und des Papstes baden, der der Teufel in
Verkleidung ist."
Auch ohne den ergänzenden
Aufruf an den "Gläubigen", sich am "Blute der
Bischöfe und des Papstes" zu berauschen, erfüllen die
Worte Luthers nach heutigen Maßstäben den Tatbestand
der Volksverhetzung. Auf jeden Fall zeugen sie von abgrundtiefem Hass auf alle Andersdenkenden.
Nach der Lektüre solcher Gedanken leuchtet einem unmittelbar
ein, was Erich Fromm (1900-1980) in seinem
Buch Die Furcht vor
der Freiheit über Luther und
über den aus ähnlichem Holz geschnitzten
Reformatorkollegen Calvin feststellt,
"dass beide als
Persönlichkeit zu den stärksten Hassern unter den
Führergestalten der Geschichte – ganz gewiss aber
unter den religiösen Führern –
gehören."
Die
Folgen
Die Zahl der Opfer in christlichen Folterkammern, auf christlichen
Scheiterhaufen, durch christliche "Mission" – insbesondere in
Begleitung der gewaltsamen Kolonisierung
außereuropäischer Länder durch die
"allerchristlichsten" Herrscher europäischer Monarchien, z. B.
in Mittel- und Südamerika (s. Las
Casas) –, auf den Schauplätzen der von
Christen angezettelten Kreuzzüge und "heiligen"
Kriege, erreichte in der Folge eine
Größenordnung, die das menschliche
Vorstellungsvermögen weit übersteigt.
Auf diesem Hintergrund
lässt sich sagen, dass Kirchengeschichte,
die in der Zeit vom 4. bis mindestens zum 18. Jahrhundert von
ungeheuerlichen Verbrechen gegenüber Völkern und
Einzelpersonen geprägt war, in großem Umfang
gleichzusetzen ist mit Unrechtsgeschichte.
U. a. verdienten insbesondere die
Opfer der kirchlichen Inquisition
und der Hexenverfolgung eine
ausführlichere Würdigung. Dazu fehlt hier jedoch der
Raum. Eine prägnante Kurzdarstellung mit Beispielen
für diese aus christlichem Fanatismus erwachsenen Untaten der
Kirchen, sowohl der katholischen als auch der protestantischen, findet
sich bei der katholischen Theologin Uta
Ranke-Heinemann (*1927), nachzulesen unter den Stichworten Autodafé und Fanatismus.
Verhalten der Kirche(n) gegenüber den
Juden
Dieses unheilgesättigte
Thema kann hier nicht so ausführlich betrachtet werden wie es
dies verdiente. Einige Anmerkungen und Zitate sollen aber deutlich
machen, dass m. E. eine direkte Linie von der frühesten
Überlieferung christlichen Gedankengutes bis hin zum Holocaust
des 20sten Jahrhunderts führt.
Verfolgung der Juden
– gerechtfertigt durch Matthäus?
Das sog. Matthäusevangelium enthält eine Stelle, die
m. E. ein ausgesprochen sonderbares, um nicht zu sagen:
unwahrscheinliches Verhalten des "Volkes" beschreibt. In Mt 27, ab dem
Vers 15 wird dargestellt wie der römische Statthalter Pilatus dem Volk, nach seiner
»Gewohnheit«, die Entscheidung über die
Freilassung eines von zwei Gefangenen überlässt. Er
präsentierte ihm »einen berüchtigten
Gefangenen, der hieß Jesus Barrabas« und einen
anderen mit Namen »Jesus, von dem gesagt wird, er sei
Christus«. Nachdem er mehr oder weniger deutlich gezeigt
hatte, dass er von den gegen Jesus Christus vorgebrachten
Beschuldigungen nicht überzeugt war, und das Volk dennoch die
Freilassung des Barrabas und die Kreuzigung des Jesus
forderte, gab er schließlich auf. In den Versen 24 - 26 wird
dies so geschildert:
»24 Als aber Pilatus sah, dass er nichts
ausrichtete, sondern das Getümmel immer
größer wurde, nahm er Wasser und wusch sich die
Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig an seinem
Blut; seht ihr zu!
25 Da antwortete das ganze Volk und sprach: Sein Blut komme
über uns und unsere Kinder!
26 Da gab er ihnen Barrabas los, aber Jesus ließ er
geißeln und überantwortete ihn, dass er gekreuzigt
werde.«
Dieser geradezu "fabelhafte" Pilatus, dessen Verhalten einen so
überdeutlichen Kontrast zum
Verhalten des Volkes bietet, hat mit der historischen Realität
mit Sicherheit nichts zu tun. Und die Selbstverfluchung des
(jüdischen) Volkes, »sein Blut komme über
uns und unsere Kinder«, ist nichts anderes als
antijudaistische Propaganda des unbekannten Schreibers, seiner
Abschreiber oder Nacherzähler. –
Der entsprechenden Stelle in der Bachschen Matthäus-Passion
kann ich, bei aller Wertschätzung dieses grandiosen Werkes,
nicht ohne inneren Widerspruch zuhören.
Die ungeschminkte
antijüdische Haltung wurde schon zu diesem frühen
Zeitpunkt Teil der christlichen Tradition. Auf
diesem Hintergrund mussten es künftige Vordenker und
Oberhirten des Christentums m. E. geradezu als ihre Pflicht ansehen,
die "überlieferte" kollektive Schuld der Juden am Tode des Gottessohnes
zum Anlass zu nehmen, um konsequent für die Erfüllung
der in gleicher Weise "überlieferten" jüdischen
Selbstverfluchung zu sorgen.
Bischof Wolfgang Huber (*1942),
Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, steht sicher
nicht im Verdacht, ein besonders harter Kritiker von Kirchen und
Christentum zu sein. Daher war es doch ein wenig überraschend,
dass er kürzlich in chrismon 09.2008 (S.
30) sehr deutliche Worte fand:
"Dass in der Darstellung des
Matthäusevangeliums das jüdische Volk die Hinrichtung
Jesu mit den Worten fordert: »Sein
Blut komme über uns und unsere Kinder«
(Matthäus 27,25), galt als Rechtfertigung für die
Verfolgung der Juden. Aus dem innerjüdischen Konflikt, den das
Neue Testament schildert, entwickelten sich in den folgenden
Jahrhunderten, erst recht im Mittelalter, festgefügte
antijüdische Stereotypen."
Der kirchen- und
christentumskritische Theologe Heinz-Werner Kubitza (*1961) kommt in
seinem Buch Der
Jesuswahn zu einer ganz ähnlichen
Einschätzung. Auch er bezieht sich auf den Satz
»Sein Blut komme über uns und unsere
Kinder« (Mt 27,25):
"Der Antisemitismus und Antijudaismus ist nicht denkbar
ohne das Neue Testament und vor allem ohne den eben zitierten Satz."
Er weist dann darauf hin, dass
dieser unheilvolle Satz, ebenso wie andere Stellen im Neuen Testament,
"reine Erfindungen der Evangelisten" seien, "unhistorische Faseleien
mit blutigen Konsequenzen". Und er untermauert seine Feststellungen mit
einem maßgebliches Pauluswort:
"Jede Pogromstimmung konnte sich
im Neuen Testament munitionieren, die Juden waren die Feinde,
»die sowohl den Herrn Jesus als auch die Propheten
getötet und uns verfolgt haben und Gott nicht gefallen und
allen Menschen feindlich sind« (1. Thess 2,15)."
Der
Dichter des Johannesevangeliums wollte Matthäus nicht
nachstehen
Der Dichter des sog. Johannesevangeliums leistete, nur wenige
Jahrzehnte später, einen weiteren, mindestens ebenso
wichtigen, Beitrag zur Verfestigung der antijüdischen
Tendenzen. Im 8. Kapitel dieses Evangeliums werden Jesus, in einer
Auseinandersetzung mit jüdischen Zeitgenossen, in den Versen
42 - 47 folgende Worte in den Mund gelegt (Text der revidierten Fassung
von 1984):
»42 Jesus sprach
zu ihnen: Wäre Gott euer Vater, so liebtet ihr mich; denn ich
bin von Gott ausgegangen und komme von ihm; denn ich bin nicht von
selbst gekommen, sondern er hat mich gesandt.
43 Warum versteht ihr denn meine Sprache nicht? Weil ihr mein Wort
nicht hören könnt!
44 Ihr habt den Teufel
zum Vater, und nach eures Vaters
Gelüste wollt ihr tun. Der ist ein Mörder von Anfang
an und steht nicht in der Wahrheit; denn die Wahrheit ist nicht in ihm.
Wenn er Lügen redet, so spricht er aus dem Eigenen; denn er
ist ein Lügner und der Vater der Lüge.
45 Weil ich aber die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht.
46 Wer von euch kann mich einer Sünde zeihen? Wenn ich aber
die Wahrheit sage, warum glaubt ihr mir nicht?
47 Wer von Gott ist, der hört Gottes Worte; ihr hört
darum nicht, weil ihr nicht von Gott seid.«
Anmerkung
Fettdruck in
Vers 44 stammt vom Autor der Site.
Die
Saat ging auf
Als das organisierte Christentum nach der konstantinischen Wende
die nötigen Machtmittel besaß, stand der Ausgrenzung
und Bestrafung der Mörder des Gottessohnes nichts mehr im
Wege. Welch unheilvolle Entwicklung damals begann, beschreiben Karlheinz Deschner (1924-2014) und Horst Herrmann (1940-2017) in ihrem
Buch Der
Antikatechismus - 200 Gründe gegen die Kirchen und
für die Welt so:
"Der heilige
Kirchenlehrer Johannes Chrysostomus, der
»Goldmund«, hält Juden insgesamt
für »nicht besser als Schweine und
Böcke« und meint von ihrer Synagoge:
»Nenne sie einer Hurenhaus, Lasterstätte,
Teufelsasyl, Satansburg, Seelenverderb, jeden Unheils
gähnender Abgrund oder was immer, so wird er noch immer
weniger sagen, als sie verdient hat.« Nachdem die Saat
schreibend gesät worden war, musste sie bald aufgehen und zur
Ernte anstehen: Schon im 4. Jahrhundert brennen Synagogen,
verbünden sich Kirchenlehrer mit den Mordbrennern von der
Straße, ziehen christliche »Heilige«
jüdisches Vermögen ein, raubt man den Besitz der
»verworfenen Schweine und Teufelsdiener«,
lässt Juden internieren und vertreiben. Der hl. Kyrill, Patriarch von Alexandrien,
bereitet im 5. Jahrhundert die erste Endlösung vor: Mehr als
hunderttausend Juden fallen ihr zum Opfer.
Es hat noch immer nicht gereicht: Dutzende von Christensynoden
verfügen eine scharf antijüdische Bestimmung nach der
anderen, bis das 6. Konzil von Toledo 638 die
Zwangstaufe aller in Spanien lebenden Juden befiehlt und das 17. Konzil von Toledo 694
sämtliche Juden zu Sklaven erklärt. Die Immobilien
dieser Sklaven werden eingezogen (zu wessen Gunsten wohl?), ihre Kinder
vom siebten Lebensjahr an ihnen weggenommen."
Die Verfolgung und Ermordung von
Juden war dann, im christlichen Europa, das gesamte Mittelalter
hindurch eine vertraute Erscheinung. Das belegt ein weiteres kurzes
Zitat aus dem vorher genannten Buch:
"1389 töten Christen an
einem einzigen Tag in Prag 3000 Juden. Nach einer Predigt des hl. Johannes von Capistrano [...]
geschieht 1453 in Schlesien dasselbe mit allen nur greifbaren Juden.
1648 werden in Polen um die 200 000 Juden ermordet. Doch zu dieser Zeit
sind die mordenden Katholiken schon nicht mehr unter sich. Denn auch
der Reformator Luther hat teil am allgemeinen
Schlachten."
Norbert Hoerster (*1937) befasst
sich in seinem Buch Die
Frage nach Gott an einer Stelle mit dem
moralischen Verhalten der christlichen Kirchen gegenüber
Minderheiten und Andersgläubigen und stellt fest, dass "sich
die Verantwortlichen einer jahrhundertelangen kirchlichen Verfolgung
diverser Minderheiten also sehr wohl auf die Heilige Schrift des
Christentums berufen" können, "was sie konsequenterweise auch
stets getan haben." Er fährt dann fort:
"Als Beispiel mögen hier
lediglich einige Sätze Luthers dienen, der ja nach
Meinung seiner Anhänger den christlichen Glauben im positiven
Sinn reformiert hat. Die Sätze stehen überwiegend in
seiner Schrift Von den Juden und ihren Lügen
– einer Schrift, in der er Forderungen an die Obrigkeit
richtet, wie mit den Juden zu verfahren sei. Luther fordert unter anderem, dass
man die Synagogen und Schulen der Juden «mit Feuer anstecke
und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe
und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder eine Schlacke
davon sehe ewiglich»; weiter fordert er, dass man die
Häuser der Juden «zerbreche und
zerstöre». Die danach Obdachlosen aber möge
man «unter ein Dach oder Stall tun, wie die Zigeuner, auf das
sie wissen, sie seien nicht Herren in unserem Lande». Da
diese Menschen alles, was sie besitzen, «uns gestohlen und
geraubt» haben, sollen sie in Zukunft «keinen
Schutz noch Schirm, noch Geleit noch Gemeinschaft haben»,
damit «wir alle der unleidlichen, teuflischen Last der Juden
ledig werden» (Luther, Bd. 53, S. 523 ff). Für
Luther sind Juden, wie er an mehr als einer Stelle seines Werkes
deutlich macht, nichts anderes als Handlanger des Teufels:
«Denn der Teufel hat die Juden besessen und gefangen, dass
sie müssen seines Willens sein» (Luther, Bd. 53, S.
601).
Sogar ein protestantischer Theologe glaubt angesichts dieser und
ähnlicher Zitate feststellen zu müssen: Luthers Forderungen nach Umgang
mit den Juden «decken sich weitgehend mit den Anweisungen zur
Reichskristallnacht, die Joseph Goebbels im November 1938
ausgab (siehe Luther Lesebuch, S. 112). Es
verwundert nicht, dass sich die Nationalsozialisten für
ihre Aktionen gegen die Juden immer wieder auf den Reformator berufen
haben; in Adolf Hitlers Buch Mein
Kampf waren derart deutliche Forderungen nicht zu finden."
Karlheinz Deschner (1924-2014) und Horst Herrmann (1940-2017)
äußern sich ähnlich zum Verhalten der Nationalsozialisten und des
organisierten Christentums während der Nazi-Diktatur. Dazu einige weitere
kurze Zitate aus ihrem Buch Der
Anti-Katechismus – 200 Gründe gegen die Kirchen und
für die Welt:
"Hitlers Schergen brauchten nur
zuzugreifen und sich zu nehmen, was seit Jahrhunderten bereitlag. Der
Diktator war der Erbe des christlichen Gedankengutes und der klerikalen
Mordpraxis.
[...]
Als Hitler 1933 den Vertreter des deutschen katholischen Episkopats
empfängt, erklärt er dem Bischof, er tue
gegenwärtig nichts anderes, als was die katholische Kirche
1500 Jahre lang getan habe. Der Bischof widerspricht nicht. Auch dann
nicht, als Hitler meint, vielleicht erweise er in der Judenfrage dem
Christentum den größten Dienst.
[...]
Die Evangelische Kirche Deutschlands, die bereits 1933 einen
judenfeindlichen Arierparagraphen geschaffen hatte,
veröffentlichte 1941 eine Bekanntmachung über die
kirchliche Stellung evangelischer Juden in der sie nicht nur die Schuld
am Zweiten Weltkrieg ausschließlich den Weltjuden zuschrieb,
sondern auch alle Bürger jüdischen Glaubens als
»geborene Welt- und Reichsfeinde« schimpfte. Den
evangelischen Oberhirten war es unter diesen Umständen ein
leichtes, sich auf Luther zu berufen und dessen
Forderung zu wiederholen, dass »schärfste
Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen und sie aus deutschen
Landen auszuweisen« seien."
Abschließend
sei hier nochmals Wolfgang Huber (*1942),
Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, zitiert (s. chrismon
09.2008, S. 31):
"Immer wieder
wurde das Christusbekenntnis zum Dreh- und Angelpunkt dieses
christlichen Antijudaismus. Dieser bahnte den Weg zu einem
Antisemitismus, der nun – fern von allen Glaubenskonflikten
– rassistisch begründet wurde, und mündete
schließlich in die unvergleichlichen Verbrechen des
Völkermords an den Juden. So trugen die antijüdischen
Stereotypen der christlichen Theologie zur Unheilsgeschichte der
Schoah, des Mordes am europäischen Judentum, entscheidend
bei."
These
Eine angemessene, glaubwürdige und umfassende Aufarbeitung der
von Christen in etwa dreizehn Jahrhunderten an den Juden
verübten Gräueltaten hat im organisierten Christentum
bis heute nicht stattgefunden.
Hypatia
Um exemplarisch aufzuzeigen, wie
Christen etwa ab dem 4. Jahrhundert mit den sog. "Heiden" verfuhren,
gibt es kaum ein geeigneteres Beispiel, als die Ermordung der
neuplatonischen Philosophin Hypatia in Alexandria im Jahr 415. Dieser
barbarische Akt symbolisiert m. E. in eindrücklicher Weise die
Vernichtung der sog. "heidnischen Kultur" durch das Christentum.
Einer der
außergewöhnlichsten Frauen der hellenistischen
Spätantike ist hier eine eigene Seite gewidmet:
>>> Hypatia
<<<
Christliche
Märtyrer
Die christlichen Märtyrer, Opfer der
sporadischen Christenverfolgungen, etwa vom Ende des 1. bis zum Beginn
des 4. Jahrhunderts, seien nicht verschwiegen. Ihre Zahl ist jedoch von
vergleichsweise geringer Größenordnung.
Eine Feststellung des Theologen und
Schriftstellers Karheinz
Deschner (1924-2014) hilft, diese Zahl entsprechend einzuordnen:
"Dazu ein winziger Ausschnitt aus
der Kirchengeschichte: 1349 wurden in mehr als 350 Städten und
Dörfern nahezu alle Juden verbrannt. In diesem einzigen Jahr
haben Christen weit mehr Juden ermordet als die Heiden einst Christen
in den 200 Jahren Christenverfolgung der Antike."
In Analogie zu ihrem typischen
Verhalten in anderen Zusammenhängen, schreckten die
Verantwortlichen der frühen Kirche nicht davor
zurück, die Zahl der christlichen Märtyrer zu
manipulieren. Es ist anzunehmen, dass das krasse
Missverhältnis zwischen der tatsächlichen Zahl der
getöteten Märtyrer und der rasch wachsenden Zahl der
Opfer des Christentums – nachdem Christen aus der Rolle von
Verfolgten in die von Verfolgern geschlüpft waren –
durch nachträgliche Fälschungen "korrigiert" werden
sollte. Karlheinz Deschner schreibt in
seiner Kritischen
Kirchengeschichte hierzu u.a.:
"Die üblicherweise
behaupteten zehn Verfolgungen entsprechen nicht der historischen
Realität. Wie so vieles im Christentum, ist auch die Zehnzahl
der Verfolgungen eine Fiktion, entstanden nach Analogie der zehn
Plagen Ägyptens. Sieht man von dem
Brandstifterprozess unter Nero
ab, lassen sich mit Sicherheit nur unter fünf von den
fünfzig römischen Kaisern zwischen Nero
und Konstantin staatliche Verfolgungen
nachweisen. »Sie dauern alle
nur kurze Zeit und erklären die relativ geringe Zahl der
echten Märtyrer«. ...
Erwies doch selbst ein
katholischer Theologe, dass beispielsweise unter den rund 250
griechischen Martyrien, die sich in immerhin etwa 250 Jahren ereignet
haben sollten, nur ungefähr 20 historisch sind. Ein so Respekt
einflößender Christ wie Origines
(†254) gesteht ohne weiteres, die Zahl der christlichen
Blutzeugen sei »klein und leicht zu
zählen«."
Vielleicht
schärft in diesem Zusammenhang auch ein Hinweis des Theologen
und Kirchengeschichtlers Bernd
Moeller (*1931) den Blick auf die gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen für das frühe Christentum im
Römischen Reich:
"Zweifelhaft
ist, ob bereits Nero allgemein die Todesstrafe
für Christen angeordnet hat, und jedenfalls war seit Trajan
(98-117) den Behörden die Nachforschung nach Christen
untersagt, nur auf Anzeigen sollten sie reagieren."
Anmerkung
Wie lange die Anordnung Trajans Bestand hatte, ob sie
in der für Christen risikobehafteten Zeit bis zur Konstantinischen Wende
ununterbrochen galt, habe ich bisher nicht herausfinden
können.
Ursachen
christlicher Selbstgerechtigkeit und Intoleranz
Die Betrachtung der oben kurz
skizzierten bestürzenden Untaten der jeweils Verantwortlichen
des organisierten Christentums führt zwangsläufig zu
der Frage, warum all das geschehen konnte. Nach unserem heutigen
Verständnis vertrugen sich die brutalen Unmenschlichkeiten zu keiner
Zeit mit den ethischen Vorstellungen, die diese Lehre ja auch
in sich trug. Daher ist es unumgänglich, nach den
möglichen Ursachen gewalttätiger christlicher
Selbstgerechtigkeit und Intoleranz zu suchen.
Schon ein flüchtiger Blick auf die Grundlagen des Christentums
führt zu der Erkenntnis, dass die über lange
Zeiträume hinweg dominierenden unheilbringenden
Triebkräfte christlichen Handelns ihre
Wurzeln nicht nur im urchristlichen Gedankengut haben, wie wir es in
den Schriften des Neuen Testaments vorfinden. Vielmehr reichen ihre
Wurzeln in historisch viel tiefere Schichten, bis hinein in die
Ideenwelt der in Palästina entstandenen jüdischen
Religion bzw. des Monotheismus.
Das Aufkommen des Monotheismus und seine
Folgen
Irgendwann im zweiten Jahrtausend v. Chr. erreichte eine lange
Entwicklung einen wichtigen Meilenstein, der den im Alten Testament
nachvollziehbaren Übergang zu einem grundlegend neuen
Gottesverständnis markiert: Es war die Geburtsstunde eines
neuen religiösen Systems, des jüdischen Monotheismus.
Die Rolle des "Geburtshelfers" wird im Alten Testament der mythischen
Figur Mose zugeschrieben.
Was ist das Charakteristische dieser
neuen religiösen Vorstellung? Der deutsch-amerikanische
Philosoph Walter
Kaufmann (1921-1980) beantwortet diese Frage in seinem Buch Der Glaube eines Ketzers:
"Der jüdische
Monotheismus kann nicht als quantitative Reduzierung irgendeines
traditionellen Polytheismus oder als
ausschließliche Loyalitätserklärung
für einen unter vielen Göttern verstanden werden:
Alle Götter der Völker werden abgewertet, gelten als
mit Gott nicht vergleichbar, mit jenem Gott, der nicht nur nicht mit
der Sonne gleichgesetzt wird, sondern überhaupt kein Ding in
dieser Welt ist."
Anmerkung
Im Zitat wird wohl
angespielt auf erste (vor-)monotheiste Vorstellungen des
ägyptischen Pharaos Echnaton,
der die Sonnengottheit Aton zur höchsten
Gottheit erhob und andere Gottheiten beseitigte.
Das Entscheidende an der
Beschreibung Walter Kaufmanns ist die Feststellung "Alle
Götter der Völker werden abgewertet".
Der Ägyptologe, Kultur- und
Religionstheoretiker Jan
Assmann (*1938), der sich sehr intensiv mit dem Monotheismus
befasst hat, spricht in diesem Zusammenhang von der "mosaischen Unterscheidung".
Nach seiner Analyse brachte sie u. a. die "Unterscheidung zwischen wahr
und falsch in der Religion" mit sich. M. E. war dies
die Geburtsstunde der sog. Glaubenswahrheit, die
im Laufe der Zeit zur absoluten bzw. göttlichen
Wahrheit mutierte. Letztere wurde zum
idealen Nährboden für Intoleranz, Ausgrenzung und
Gewalt.
Jan Assmann weist in seinem Buch Die mosaische Unterscheidung
darauf hin, dass die Welt vor dem Aufkommen des Monotheismus
zweifelsohne viele Formen der Gewalt kannte, und er bestreitet auch
nicht, dass die neue Religion bzw. die neuen Religionen –
unter Einbeziehung der wesentlich später entstandenen
monotheistischen Religionen Christentum und Islam –
verschiedene Formen der Gewalt "gebändigt, zivilisiert oder
geradezu ausgemerzt" hätten. Er sagt aber auch:
"Ebensowenig lässt sich
aber bestreiten, dass sie gleichzeitig eine neue Form von Hass in die
Welt gebracht haben: den Hass auf Heiden, Ketzer, Götzendiener
und ihre Tempel, Riten und Götter."
Folgenschwere
Meinungsäußerungen urchristlicher
Autoritäten
Anhand einiger aus dem Neuen Testament stammender
einschlägiger Textstellen wird hier versucht, weiteren
Ursachen gewalttätiger christlicher
Selbstgerechtigkeit
und Intoleranz nachzuspüren.
Paulus, der als erster christlicher
Theologe gilt, sah sich ganz offensichtlich als Verkündiger
des einzig wahren Evangeliums. Kritiker der
paulinischen Theologie, wie Wilhelm
Nestle (1865-1959), verweisen darauf, dass Paulus nicht etwa
das Evangelium des "religiösen Genius" Jesu
verkündigt habe, "sondern er hat ein anderes Evangelium, das
Evangelium von Jesus, das er unmittelbar von Gott
empfangen zu haben vermeint, an dessen Stelle gesetzt." Da verwundert
es auch nicht, das er sich im Galaterbrief, einem seiner als echt
geltenden Briefe, in geradezu wahnhafter Anmaßung zu
folgender Aussage verstieg (Gal 1, 8):
»8 Aber auch wenn
wir oder ein Engel vom Himmel euch ein Evangelium predigen
würden, das anders ist, als wir es euch gepredigt haben, der
sei verflucht.«
In diesen Worten, aus einem der
ältesten Dokumente christlicher Überlieferung, ist
schon der verhängnisvolle Absolutheitsanspruch
des Christentums angelegt, und die sich daraus ableitende unbarmherzige
Ausgrenzung und Verurteilung Andersdenkender.
Mit einer Variante von
Andersdenkenden, mit den "Abgefallenen", befasste sich eine andere
frühchristliche Autorität. "Abgefallene" hatten sich
dem Christentum zunächst zugewandt, dann aber, aus welchen
Gründen auch immer, von ihm wieder verabschiedet. Eine
Beurteilung dieser Menschen, die einer Verurteilung
gleichkommt, findet man im sog. Hebräerbrief. Sein unbekannter
Verfasser äußert dort folgende Meinung (Hebr 6,
4-8):
»4 Denn es ist
unmöglich, die, die einmal erleuchtet worden sind und
geschmeckt haben die himmlische Gabe und Anteil bekommen haben am
heiligen Geist und geschmeckt haben
5 das gute Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen
Welt
6 und dann doch abgefallen sind, wieder zu erneuern zur Buße,
da sie für sich selbst den Sohn Gottes abermals kreuzigen und
zum Spott machen.
7 Denn die Erde, die den Regen trinkt, der oft auf sie fällt,
und nützliche Frucht trägt denen, die sie bebauen,
empfängt Segen von Gott.
8 Wenn sie aber Dornen und Disteln trägt, bringt sie keinen
Nutzen und ist dem Fluch nahe, so dass man sie zuletzt
abbrennt.«
Der Abfall vom christlichen Glauben,
als abermalige Kreuzigung des Sohnes Gottes gebrandmarkt, ist aus Sicht
des Schreibers dieser Zeilen unentschuldbar. Das Verhalten eines
"Abgefallenen" versteht er zweifelsohne als Akt des Verrats und er
vergleicht den Verräter mit einer Erde, die »Dornen
und Disteln trägt« und daher »keinen
Nutzen« bringt, »so dass man sie zuletzt
abbrennt.«
Der unbekannte Schreiber des unechten
2. Petrusbriefes, der sein Elaborat mit Bedacht unter dem Namen des
berühmten Jesus-Jüngers verfasste, rief ganz
unverhohlen zur Tötung Andersdenkender auf und
erfüllte damit, nach heutigem Verständnis, den
Tatbestand der Volksverhetzung. Im 2. Kapitel, Vers 12, sagt er
über die sog. »Irrlehrer« oder
»falschen Propheten«:
»12
Aber sie sind wie die unvernünftigen Tiere, die von Natur dazu
geboren sind, dass sie gefangen und geschlachtet werden.«
Gegen Ende des 2. Kapitels
identifiziert der Petrusbrief-Fälscher die "Irrlehrer"
implizit als "Abgefallene", wie sie im Hebräerbrief explizit
beschrieben werden. Er verleumdet sie, in einer, auch für
andere Teile der Bibel charakteristischen, rüden Art und Weise:
»21
Denn es wäre besser für sie gewesen, dass sie den Weg
der Gerechtigkeit nicht erkannt hätten, als dass sie ihn
kennen und sich abkehren von dem heiligen Gebot, das ihnen gegeben ist.
22 An ihnen hat sich erwiesen die Wahrheit des Sprichworts: Der Hund
frisst wieder, was er gespien hat; und: Die Sau wälzt sich
nach der Schwemme wieder im Dreck.«
Der unbekannte Schreiber des sog.
Matthäusevangeliums, wohl eine noch gewichtigere
frühchristliche Autorität, befasst sich mit dem
Vergehen eines Menschen, der andere Menschen »zum Abfall verführt«.
Er wird mindestens genauso deutlich wie der Verfasser des 2.
Petrusbriefes. In Kapitel 18, Vers 6 (s. auch Lk 17, 1-2), legt er
Jesus gleich die konkrete Empfehlung einer angemessenen Strafe
für dieses Vergehen in den Mund:
»6 Wer aber einen
dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Abfall verführt,
für den wäre es besser, dass ein Mühlstein
an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde
im Meer, wo es am tiefsten ist.«
Hier spricht natürlich
nicht mehr der Mensch Jesus. Hier
lässt der unbekannte Schreiber (oder lassen unbekannte
spätere Abschreiber oder Nacherzähler) den Gottessohn
mit väterlicher Vollmacht sprechen. Nie würde ein Mensch,
einer mit klarem Verstand jedenfalls, davon ausgehen,
dass andere Menschen an ihn glauben. Und weder
ein Mensch noch der, in den Schriften an anderen
Stellen durchschimmernde liebende
«Gott», dächten an eine derart brutale und
unmenschliche Bestrafung! Dieser Einsicht
wären auch die Kirchenführer früherer Zeiten
fähig gewesen. Sie verschlossen sich jedoch dieser Erkenntnis
und folgten, ob in dogmatischer Verblendung oder bewusst, der mit
göttlicher Autorität vorgetragenen
Empfehlung. Konnte es eine überzeugendere Rechtfertigung ihrer
barbarischen Untaten geben?
In den vorher zitierten
neutestamentlichen Texten könnte der Widerspruch zu
– auch vorhandenen –
christlichen Vorstellungen von
»Nächstenliebe« und
»Feindesliebe« oder »Gnade« und
»Vergebung« kaum deutlicher zu Tage treten.
"Im Missionsbefehl
zeigt sich das hässliche Gesicht der Intoleranz"
Der "Missionsbefehl" (Mt 28,18-20) spielte schon
bei der Betrachtung der zahlreichen Fälschungen in den
überlieferten neutestamentlichen Texten eine
unrühmliche Rolle (s.
hier). Neben anderen Autoren kam dort auch schon
der Theologe Heinz-Werner Kubitza (*1961) zu Wort (s.
hier).
Im folgenden Zitat, das ebenfalls seinem Buch Der Jesuswahn
entnommen ist, beleuchtet er dieses "Unwort der Bibel" noch einmal aus
einer etwas anderen Perspektive:
"Denn diese Verse gehören
noch heute zu den beliebtesten Stellen des Neuen Testaments. Und doch
verbirgt sich in ihnen ein weiteres Unwort der Bibel, von Christen aber
meist gar nicht als solches wahrgenommen. Denn dieses Gehet hin
und macht zu Jüngern alle Völker und tauft sie
hat sich in der Kirchen- und Profangeschichte als ein wahres Blutwort
erwiesen, bedeutete es doch die ideologische
Rechtfertigung von Religionskriegen und der Unterjochung ganzer
Völker im Namen der Ausbreitung des Christentums. Allein in
der Neuen Welt wurden mit Hinweis auf den "Missionsbefehl" ganze
Völker vernichtet, die Zahl der Ermordeten und in Verbindung
mit den Eroberungen Gestorbenen ging in die Millionen, fast
unvorstellbar für eine noch fast spätmittelalterliche
Gesellschaft. Und selbst wenn die Kirchen dies heute ehrlich bedauern
oder gar von einem Missbrauch des Evangeliums sprechen, und selbst wenn
man zugesteht, dass die Eroberung als im Grunde rein machtpolitischer
Akt auch ohne kirchliche Unterstützung wohl stattgefunden
hätte, spricht dies die Kirchen nicht frei von der Tatsache,
dass es eben ihre Religion war, die hier Henkersdienste leistete. Ernst
gemeintes Entschuldigen und aufrichtiges Bedauern macht die Toten nicht
wieder lebendig, beseitigt kein geschehenes Leid.
Im
Missionsbefehl zeigt sich das hässliche Gesicht der Intoleranz
und der religiösen Rechthaberei, die freilich
dann nicht gesehen wird, wenn man selbst sich als Christ versteht. Man
stelle sich aber nur einmal vor, hier spräche nicht Jesus,
sondern irgendein anderer Religionsführer, meinetwegen
Mohammed, der zur Ausbreitung des Islam aufruft, oder Lenin, der von
der Weltrevolution träumt. Dann spürt man
plötzlich die Arroganz, die aus solchen Worten spricht.
Intoleranz hat viele Gesichter."
Anmerkung
Hervorhebungen im
Zitat stammen vom Autor der Site.
Texte des Alten Testaments
besaßen dieselbe Autorität
Eine analoge Handlungsanleitung für den Umgang mit Menschen,
die andere »abbringen wollen von dem HERRN«,
steht im 5. Mose 13,7ff. Der Text aus der Bibel
in der revidierten Fassung von 1984 spricht für sich:
»7 Wenn dich dein
Bruder, deiner Mutter Sohn, oder dein Sohn oder deine Tochter oder
deine Frau in deinen Armen oder dein Freund, der dir so lieb ist wie
dein Leben, heimlich überreden würde und sagen: Lass
uns hingehen und andern Göttern dienen, die du nicht kennst
noch deine Väter,
8 von den Göttern der Völker, die um euch her sind,
sie seien dir nah oder fern, von einem Ende der Erde ans andere,
9 so willige nicht ein und gehorche ihm nicht. Auch soll dein Auge ihn
nicht schonen und du sollst dich seiner nicht erbarmen und seine Schuld
nicht verheimlichen,
10 sondern sollst ihn zum Tode bringen. Deine Hand soll die erste wider
ihn sein, ihn zu töten, und danach die Hand des ganzen Volks.
11 Man soll ihn zu Tode bringen, denn er hat dich abbringen wollen von
dem HERRN, deinem Gott, der dich aus Ägyptenland, aus der
Knechtschaft, geführt hat,
12 auf dass ganz Israel aufhorche und sich fürchte und man
nicht mehr solch Böses tue unter euch.
13 Wenn du von irgendeiner Stadt, die der HERR, dein Gott, gegeben hat,
darin zu wohnen, sagen hörst:
14 Es sind etliche heillose Leute aufgetreten aus deiner Mitte und
haben die Bürger ihrer Stadt verführt und gesagt:
Lasst uns hingehen und andern Göttern dienen, die ihr nicht
kennt,
15 so sollst du gründlich suchen, forschen und fragen. Und
wenn sich findet, dass es gewiss ist, dass solch Gräuel unter
euch geschehen ist,
16 so sollst du die Bürger dieser Stadt erschlagen mit der
Schärfe des Schwerts und an ihr den Bann vollstrecken, an
allem, was darin ist, auch an ihrem Vieh, mit der Schärfe des
Schwerts.
17 Und alles, was in ihr erbeutet wird, sollst du sammeln mitten auf
dem Marktplatz und mit Feuer verbrennen die Stadt und all ihre Beute
als ein Ganzopfer für den HERRN, deinen Gott, dass sie in
Trümmer liege für immer und nie wieder aufgebaut
werde.«
Wohlfeile Handlungsanweisung und
Rechtfertigung
Die wenigen oben, aus dem Neuen und aus dem Alten Testament, zitierten
Textstellen sind wohl noch nicht einmal die sprichwörtliche
"Spitze des Eisbergs". Die »Heilige
Schrift« bzw.
das »Wort Gottes« bot den Hauptakteuren
des organisierten Christentums eine große Fülle
ähnlicher Vorgaben. Sie konnten sich in beiden Testamenten
nach Gutdünken bedienen. Aus dem vorgefundenen Gedankengut
ließen sich sehr leicht die Handlungsanweisung und auch die
Rechtfertigung jedweder unchristlichen Tat
ableiten.
Begründung
von Gesinnungsschnüffelei und Bekenntniszwang?
Der unbekannte Verfasser des
Matthäusevangeliums legte Jesus vor rund 2000 Jahren Worte in
den Mund, die so oder so ähnlich, sehr viel später,
auch von Vertretern links- und rechtsextremistischer Ideologien
gebraucht wurden. In Mt 12,30 heißt es:
»30 Wer nicht mit
mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der
zerstreut.«
Diese Worte leisteten zweifellos
einen wesentlichen Beitrag zur Begründung von
Gesinnungsschnüffelei und Bekenntniszwang, d. h. zur
Begründung eines menschenverachtenden Verhaltens, wie es
für das organisierte Christentum durch viele Jahrhunderte
hindurch kennzeichnend war. In der Inquisition
der mittelalterlichen Kirche fand diese Praxis ihre ganz besonders
abscheuliche Ausprägung. Die Vulgärsprache beschreibt
die analoge Praxis extremistischer Ideologien seit der
Französischen Revolution mit den Worten: "Willst du nicht mein
Bruder sein, so schlag' ich dir den Schädel ein".
Auch an dieser Stelle wird einmal
mehr deutlich, wie widersprüchlich sich die Inhalte der im
Neuen Testament überlieferten Schriften zueinander verhalten.
Im Markusevangelium (s. Mk 9,40) spricht Jesus eine ganz andere
Sprache:
»40 Denn wer nicht
gegen uns ist, der ist für uns.«
Diese Worte zeugen von Gelassenheit
und Toleranz. Sie fanden jedoch nicht die ihnen angemessene Beachtung.
Die dem Verfasser des Matthäusevangeliums zugeschriebene
Autorität wog im Bewusstsein der kirchlichen Machthaber in der
Folgezeit offenbar schwerer. Sicher auch deshalb, weil die dort
überlieferten Worte ihrem Machtkalkül und dem daraus
resultierenden Handlungsschema sehr viel besser entsprachen.
Laktanz
(um 260-325): Über die Todesarten der Verfolger
Bei der Philologin und Schriftstellerin Marion
Giebel (*1939) fand ich den Hinweis auf ein Werk des christlichen
Lehrers und Schriftstellers Laktanz (lat. Lactantius),
"mit dem »eine trübe Tradition christlicher
Selbstgerechtigkeit« beginnt":
"Laktanz hatte unter dem Eindruck
der siegreichen Kirche auch ein Werk der Zeitgeschichte verfasst: De
mortibus persecutorum, Über die Todesarten der Verfolger,
in dem er die heidnischen Kaiser, die die Kirche verfolgt hatten, in
drastischer Form »verteufelt« und ihren Tod als
gerechte Strafe Gottes ansieht. So triumphiert er über Galerius
(obwohl dieser mit seinem Edikt die Tür für das
Christentum aufgestoßen hatte), der an einer schlimmen
Krankheit (wohl Krebs) dahinsiechend ein elendes Ende fand. Der fromme
Laktanz preist Gott, dass er die heidnischen Kaiser, diese
bösen Untiere, ausgerottet und vertilgt hat. Schon 314, also
ein Jahr nach der »Wende«
entstanden, markiert das Werk den Umschlag von den Verfolgten zu den
Verfolgern, die sich nicht scheuten, den Heiden das nachzusagen, was
man ihnen zuvor zum Vorwurf gemacht und worüber sie sich
bitter beklagt hatten: dass sie bei ihren nächtlichen
Zusammenkünften kleine Kinder schlachteten und auch sonst alle
möglichen Untaten begingen, die man gar nicht auszusprechen
wage ..."
Der bekannte Altphilologe Wilhelm Nestle (1865-1959) zeigt
in seinem Werk Griechische
Studien, im Kapitel Legenden vom Tod
der Gottesverächter, dass sich
frühchristliche Verfasser nicht anders verhielten als
vergleichbare Schreiber anderer antiker Religionen:
"Das Ergebnis unserer Untersuchung
ist: Der die Schrift »De mortibus persecutorum«
beherrschende Gedanke, dass Gott die christenfeindlichen Kaiser, die in
den Anhängern der christlichen Religion ihn selbst und seine
Wahrheit bekämpften, durch einen besonders grausamen Tod
bestrafte, ist eine Übertragung aus der Antike. Auch dort
werden Gottesverächter der verschiedensten Art, besonders aber
Feinde und Bekämpfer eines bestimmten Gottes und seiner
Verehrung, z. B. des Dionysos, mit besonders
auffallenden und abschreckenden Todesarten bestraft. Die Idee ging aus
der griechischen in die hellenistisch-jüdische (Makkabäerbücher,
Philo, Josephus)
und aus dieser in die christliche Literatur über. Für
unseren Verfasser hat ohne Zweifel die Apostelgeschichte die
Brücke von der antiken Profanliteratur zu seiner Schrift
gebildet. Man sieht an ihm, wie am Verfasser der Apostelgeschichte,
dass die Denkformen der Christen noch die gleichen sind wie die ihrer
heidnischen Gegner und nur mit einem neuen Inhalt erfüllt
werden. So verrät auch diese christliche Schrift noch das
geistige Erbe der Antike."
Das Dreikaiseredikt Cunctos populos
–
Ausgrenzung von Häretikern
Mit der Veröffentlichung dieses Edikts am 27. Januar 380 schlug die Geburtsstunde der christlichen
Reichskirche. Gleichzeitig wurden christliche
Selbstgerechtigkeit und Intoleranz erneut legitimiert, wohl noch nachhaltiger als
mit den Beschlüssen des Konzils von Nicäa
(s. Verdammungsklausel am Ende des Nicänums).
Der Text bedarf keiner weiteren Erläuterung:
»Alle Völker,
über die wir ein mildes und maßvolles Regiment
führen, sollen sich, so ist unser Wille, zu der Religion
bekehren, die der göttliche Apostel Petrus den Römern
überliefert hat, wie es der von ihm kundgemachte Glaube bis
zum heutigen Tage dartut und zu dem sich der Pontifex Damasus
klar bekennt wie auch Bischof Petrus von Alexandrien, ein Mann von
apostolischer Heiligkeit;
das bedeutet, dass wir gemäß apostolischer Weisung
und evangelischer Lehre eine Gottheit des Vaters, Sohnes und Heiligen
Geistes in gleicher Majestät und heiliger Dreifaltigkeit
glauben.
Nur diejenigen, die diesem Gesetz
folgen, sollen, so gebieten wir, katholische Christen heißen
dürfen; die übrigen, die wir für wahrhaft
toll und wahnsinnig erklären, haben die Schande
häretischer Lehre zu tragen.
Auch dürfen ihre
Versammlungsstätten nicht als Kirchen bezeichnet werden.
Endlich soll sie vorab die göttliche Vergeltung, dann aber
auch unsere Strafgerechtigkeit ereilen, die uns durch himmlisches
Urteil übertragen worden ist.«
Die weltlichen Machthaber hatten bei
der Ausübung ihrer angemaßten, ihnen vorgeblich
"durch himmlisches Urteil" übertragenen, "Strafgerechtigkeit"
zweifellos die Rückendeckung maßgeblicher
Kirchenführer ihrer Zeit. Zwar ist mir nicht bekannt, ob ein
einschlägiges Wort des von der römischen Konfession
noch heute als "Kirchenvater" verehrten Hieronymus (347-420) im Jahr 380
schon in der Welt war, ich gehe jedoch davon aus, dass er lediglich in
Worte fasste, was von anderen führenden Köpfen der
frühen Kirche, vor ihm und nach ihm, so oder so
ähnlich auch gedacht und vertreten wurde:
»Grausamkeit ist nicht,
was vor Gott aus Frömmigkeit getan wird.«
Anmerkungen
- Das Hieronymus-Zitat fand ich im Buch Das Erbe der Gewalt
des Theologen Jürgen Ebach (*1945).
- Hieronymus ist auch der Verfasser der Vulgata,
der lateinischen Bibel. Sein Auftraggeber war Papst Damasus (s.
hier).
Freibrief
zur Tötung Andersdenkender – ausgestellt von
Innozenz III.
In
einem Beitrag des ehemaligen katholischen Theologieprofessors Hubertus Mynarek (*1929) zu dem
von Gerhard Besier und Erwin K. Scheuch herausgegebenen Buch Die
neuen Inquisitoren – Religionsfreiheit und Glaubensneid
(Teil I, Zürich 1999) fand ich folgenden Hinweis auf ein Wort
von Innozenz III. (1160-1216):
"Bis heute ist in der katholischen
Kirche Papst Innozenz' III. Exkulpierung von Ketzerkillern nicht
widerrufen: »Wer einen Ketzer aus Liebe zur Kirche
tötet, begeht kein Verbrechen«."
Der häufig als einer der
bedeutendsten Päpste des Mittelalters bezeichnete Innozenz
III. war ein extrem intoleranter und brutaler Verfolger aller sog.
Häretiker in seinem Einflussbereich. Er war u. a.
verantwortlich für diverse Massaker an den Katharern
in Südfrankreich. Seine oben zitierte Feststellung war nichts
anderes als ein Freibrief für die Tötung aller
Individuen, die der Kirche blinden Gehorsam verweigerten. Bemerkenswert
erscheint mir, dass hier nicht, wie in anderen Zeiten, aus Liebe zu
Gott oder zu Christus, sondern nunmehr aus Liebe zur Kirche (!) ebenso
ungestraft gemordet werden durfte. Zweifelsohne gehören die
Worte Innozenz III. zu den abstoßendsten Beispielen christlicher
Selbstgerechtigkeit und Intoleranz.
Praxis
christlicher Selbstgerechtigkeit und Intoleranz in jüngerer
Geschichte
Im Jahre 1854 verkündete Papst Pius
IX. (1792-1878) das Dogma von der unbefleckten
Empfängnis Mariens. In der entsprechenden
päpstlichen Urkunde heißt es u. a.:
"[...] Die Lehre, dass die
seligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis
durch einzigartiges Gnadengeschenk und Vorrecht des
allmächtigen Gottes, im Hinblick auf die Verdienste Christi
Jesu, des Erlösers des Menschengeschlechts, von jedem Fehl der
Erbsünde rein bewahrt blieb, ist von Gott geoffenbart und
deshalb von allen Gläubigen fest und standhaft zu glauben.
Wenn sich deshalb
jemand, was Gott verhüte, anmaßt, anders zu
denken, als es von Uns bestimmt wurde, so soll er klar
wissen, dass er durch eigenen Urteilsspruch verurteilt ist, dass er an
seinem Glauben Schiffbruch litt und von der Einheit der Kirche abfiel,
ferner, dass er sich ohne
weiteres die rechtlich festgesetzten Strafen zuzieht, wenn er in Wort
oder Schrift oder sonstwie seine Auffassung
äußerlich kundzugeben wagt."
Im Jahre 1950 verkündete
Papst Pius XII. (1876-1958) das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in
den Himmel (Himmelfahrt Mariens). In dem entsprechenden
Dokument steht u. a.:
"Wir
verkünden, erklären und definieren es als einen von Gott geoffenbarten
Glaubenssatz, dass die
makellose Gottesmutter, die allzeit reine Jungfrau Maria, nach
Vollendung ihrer irdischen Lebensbahn mit Leib und Seele in die
himmlische Herrlichkeit aufgenommen wurde. [...]
Wenn
daher, was Gott verhüten möge, jemand
vorsätzlich dies, was wir definiert haben, leugnet oder in
Zweifel zieht, so soll er wissen, dass er völlig von dem
göttlichen und allumfassenden Glauben abgefallen ist."
Anmerkung
Hervorhebungen in
den Zitaten dieses Abschnitts stammen vom Autor der Site.
Die oben zitierten
päpstlichen Dokumente sind für mich Dokumente der
Anmaßung und des Größenwahns:
Fantasieprodukte aus dem Denkgetto vatikanischer Spitzenkleriker, deren
Inhalte "von Gott geoffenbart" sein sollen. Und am Ende der Dokumente
folgen – erst in 1950 in etwas abgeschwächter Form
– massive Drohungen an die Adresse derjenigen, die es wagen
sollten, "anders zu denken". Damit folgen diese Dokumente einer
ehrwürdigen, von Paulus vor fast zweitausend Jahren
begründeten, Tradition (s. oben),
die dann im Jahre 325 eine nachhaltige Festigung erfuhr: Vom 1. Konzil in
Nicäa wurde in Glaubensbekenntnis, das
berühmte Nicänum, beschlossen, dem
eine beispielgebende Verdammungsklausel angefügt war (s. hier).
Die in den o. g. Dokumenten aus der
jüngeren Geschichte des Christentums ungeschminkt zum Ausdruck
kommende christliche
Selbstgerechtigkeit und Intoleranz ist bis
heute fundamentaler Bestandteil der Lehren der römischen
Konfession, die leider immer noch einem großen Teil der
Menschheit zugemutet werden.
"Geschichtsreligion"
Christentum – Nährboden des Fanatismus?
Nach
Auffassung des Theologen und Pädagogen Gustav Wyneken (1875-1964)
ist das Christentum eine "Geschichtsreligion". Ein spezifisches Merkmal
dieser Religionsform bestehe darin, dass ein entscheidendes
geschichtliches Ereignis, mit dem "Charakter einer von der Gottheit
ausgehenden »Offenbarung«", zum zentralen Inhalt
des »Glaubens« werde.
Um den dauerhaften Bestand dieses
zentralen Glaubensinhaltes zu gewährleisten, wird er
festgeschrieben, d. h. in Dogmen gefasst, von einer mächtigen
Institution beschlossen und als »Glaubenswahrheit«
verkündet. Diese Institution, die vorgibt im Auftrag und mit
Vollmacht der Gottheit zu handeln, wacht in der Folge darüber,
dass die »Glaubenswahrheit« unverändert
überliefert wird. Von den
»Gläubigen« wird blinder Gehorsam
gefordert. Gustav Wyneken zieht daraus folgenden Schluss:
"…, und eben weil
dieser Glaube letzten Endes ein der Autorität geleisteter
Gehorsam ist, kann der »Zweifel«, d. h. das
kritische Bedürfnis, der Widerspruch der Vernunft, der
kategorische Imperativ der Wahrheit nie befriedigt, sondern nur
verdrängt werden. Der verdrängte
»Zweifel«, das latente schlechte Gewissen, sie
rächen sich, indem sie den Unglauben, den sie sich selber
nicht gestatten, bei anderen verfolgen. Es ist das die bequemste Weise,
sich den eigenen Glauben zu bestätigen. Es ist aber auch
zugleich eine Aktion des Neides auf die Freiheit."
Anmerkung
Schon in einem frühen Entwicklungsstadium des
Christentums hat sich m. E. die Autorität, die den Gehorsam
einfordert, von der Gottheit zur Institution, zur Kirche, verschoben.
Es gibt christliche Konfessionen, bei denen dieser Zustand bis heute
andauert, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil ein großer
"Heiliger", der "Kirchenlehrer Augustinus" (354-430), durch eine
vielzitierte Feststellung dazu anregte: »Ich
würde dem Evangelium keinen Glauben schenken, wenn mich die
Autorität der Kirche nicht dazu bewöge«.
Gustav Wyneken identifiziert eine
weitere plausible Ursache für den
»Zweifel«. Sie ergibt sich für ihn aus den
Eigenschaften "historischer Fakten":
"Eben weil historische Fakten
immer höchst unsicher, unbeweisbar und grundsätzlich
nicht nachprüfbar sind, kann der Zweifel an dieser Grundlage
des Glaubens nie verstummen."
Er beschreibt darüber
hinaus einen vielleicht noch gewichtigeren, einen "pathologischen"
Charakterzug der "Geschichtsreligionen", den Fanatismus:
"»Credo quia absurdum
est« – ich glaube es, eben weil es unsinnig ist
–, ein berühmtes Wort unbekannten Ursprungs, mit dem
der Charakter urchristlicher Gläubigkeit gekennzeichnet werden
soll, einer Gläubigkeit, die nicht auf Überzeugung,
sondern auf Willensentscheidung für einen Gehorsam beruht und
die also die Frage nach der Wahrheit ausschaltet. Dann muss der Wille
die Stimme von Vernunft und Wahrhaftigkeit überschreien,
Gründe ersetzen durch Motive und Bedürfnisse und das
letzte Opfer des Intellekts bringen, den Selbstmord des Denkens. Diese
pathologische Ausartung der Religion nennen wir Fanatismus und werden
es nun verstehen, warum dieser in besonderer Weise die
Geschichtsreligionen befällt."
Das
Streben nach »ewigem Seelenheil« und seine Folgen
Weil die Theologen heute, insbesondere in ihrer
Rolle als Seelsorger "vor Ort", biblische Texte ausgesprochen selektiv
benutzen, sind viele Bibelstellen, die ein großes Potential
an psychischem Schrecken enthalten, kaum noch bekannt. Genau diese
dienten früher den kirchlichen Machthabern, aus naheliegenden
Motiven, zur Disziplinierung und Ausbeutung ihrer "Schäfchen".
Man denke nur an die perfide Einschüchterungs-Strategie der
mittelalterlichen Ablasshändler etc.
Heute wird von den Theologen meist
verbreitet, dass »Gott« das
»Seelenheil« jedes einzelnen Menschen im Auge habe.
Dabei gibt es verschiedene Bibelstellen, die ganz klar nur einer
begrenzten Zahl von »Auserwählten« die
»Seligkeit« versprechen. Im Folgenden werden zwei
der eher harmloseren Stellen zitiert.
In dem als echt
geltenden Brief des Paulus an die Philipper steht im Kap. 2, in den
Versen 12 - 13:
»12 […]
- schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern.
13 Denn Gott ist's, der in euch wirkt beides, das Wollen und das
Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.«
Und im Matthäusevangelium
heißt es im Kap. 22, Vers 14:
»14 Denn viele
sind berufen, aber wenige sind auserwählt.«
«Gott» erscheint
hier – und nicht nur hier – als (orientalischer)
Despot, der nichts dabei findet, Menschen in "Furcht und Zittern" zu
versetzen und seine Gunst ganz "nach seinem Wohlgefallen", also nach Belieben,
zuzuteilen. Wahrscheinlich haben Bibelstellen, wie diese,
Schreckensgestalten wie Augustinus (354-430) oder, mehr
als ein Jahrtausend später, Calvin (1509-1564) dazu
inspiriert, u. a. die unsägliche Lehre von der »Prädestination«
zu entwickeln. Für die Gläubigen brachte diese Lehre
verstörende Gefühle des Ausgeliefertseins und der
Verunsicherung mit sich. Beste Voraussetzungen für die
Kirchen, die Menschen mit Heils- und Erlösungsversprechen an
sich zu binden. Die allerletzte Gewissheit
erlangten sie zwar nicht, aber als
»Kirchgläubige« konnten sie sich immerhin
als "Kandidaten" für die Anwartschaft auf das »ewige
Seelenheil« verstehen, deren "Kandidatur" von der Kirche
befürwortet wurde. In einer Situation, in der die Kirchen das
»ewige Seelenheil« als das höchste aller
erstrebenswerten Güter anpreisen konnten, entwickelte sich bei
den "Kandidaten" eine zunehmend egoistischere Haltung.
Der Philosoph Walter Kaufmann (1921-1980)
verweist in seinem Buch Der
Glaube eines Ketzers, im Zusammenhang mit der
Analyse überlieferter Texte, auf die Ursachen dieser
Entwicklung:
"Im Neuen Testament […]
steht die alles überschattende Sorge des einzelnen um sein
ewiges Glück – um sein Seelenheil – im
Mittelpunkt und bestimmt die ganze Atmosphäre. […]
Der Jesus der Evangelien
[…] appelliert an die Selbstsucht des einzelnen."
Walter Kaufmann bezieht sich in
diesem Zusammenhang auch auf den Theologen Ernst Troeltsch (1865-1923) und
zitiert aus dessen Buch Die Soziallehren der christlichen
Kirchen und Gruppen:
"Er übertreibt nicht,
wenn er die sittlichen Lehren Jesu, wie sie in den Evangelien
niedergelegt sind, als »unbegrenzten und unbedingten
Individualismus« bezeichnet."
So wird nachvollziehbar, dass die
"Heils-Kandidaten" auf alles, was den Erfolg ihrer "Kandidatur"
gefährden konnte, aggressiv und rücksichtslos
reagierten. Jede mögliche Gefährdung, z. B. durch die
von Andersdenkenden ausgelösten eigenen Zweifel, war geeignet,
»Nächstenliebe« oder gar
»Feindesliebe« außer Kraft zu setzen und
denkbare Kompromisse unmöglich zu machen – ein
ausgezeichneter Nährboden für christliche
Selbstgerechtigkeit und Intoleranz.
Ausgewählte
Fehlentwicklungen im Christentum
Die Geschichte des Christentums
liefert deutliche Hinweise auf gravierende Fehlentwicklungen.
Näheres Hinsehen führt sehr schnell zur Erkenntnis,
dass es sich dabei nicht um zufällige Erscheinungen handelt,
sondern um die logische Folge aus "Geburtsfehlern" dieser Religion. Es
seien hier nur folgende genannt:
- Die Geringachtung der diesseitigen
Lebensumstände und, im Gegensatz dazu, die
Überbetonung des »Seelenheils« im Jenseits.
- Das völlige Fehlen einer
neuen, einer "christlichen" Ethik (s. auch Menüpunkt
Jesus).
Ursache dieser "Geburtsfehler" war
die ursprünglich von Paulus vertretene und dann auch von den
Schreibern der Evangelien dem biblischen Jesus in
den Mund gelegte Glaubensmeinung, dass das Kommen des
»Reiches Gottes« nahe bevorstünde. Sie
suggerierten ihren Zuhörern und Lesern sogar, dass einige von
ihnen dieses Großereignnis noch erleben würden. Auf
diesem Hintergrund waren z. B. soziale Fragen, die sich aufgrund der
unmenschlichen Verhältnisse in der spätantiken
Gesellschaft stellten, gänzlich uninteressant. Dass sich diese
»Naherwartung« schließlich als Illusion
erwies, brachte die frühen Christen nicht nur in Verlegenheit,
sondern offenbarte die Tatsache, dass diese Religion u. a. für
eine angemessene (Neu-)Gestaltung der Lebensumstände der
leidenden Mehrheit der damaligen Gesellschaft nicht gerüstet
war.
Mit dem Ausbleiben des
»Reiches Gottes« war die
"Geschäftsgrundlage" der neuen Religion eigentlich entfallen.
Erschwerend kam hinzu, dass die Glaubwürdigkeit des
(unfreiwilligen) Religionsstifters, dem bekanntlich göttliche
Allwissenheit zugeschrieben wurde, erheblich gelitten hatte. Die
Selbstauflösung wäre eine naheliegende Konsequenz
daraus gewesen. Tatsächlich hat sich das frühe
Christentum jedoch, spätestens nach "Konstantins Umarmung"
bzw. nach der »Konstantinischen
Wende«, mit den vorherrschenden
Verhältnissen skrupellos arrangiert.
Der Theologe Martin Werner (1887-1964) wies
darauf hin, dass es in den Anfängen des Christentums durchaus
so etwas wie eine "gehaltreiche Individualethik" gegeben habe, die aber
"im Erlahmen der Naherwartung infolge der andauernden Parusieverzögerung
verloren gegangen" sei. Ich denke, dass es neben den weitgehend
unethisch handelnden führenden Köpfen in den
kirchlichen Hierarchien stets auch einzelne Christen gab, die ihre
"Individualethik" vorbildhaft von Generation zu Generation weitergaben.
Dennoch, auch wenn die Vertreter des
organisierten Christentums uns noch immer, mehr oder weniger direkt,
glauben machen wollen, dass das Christentum für das
Vorhandensein ethischer Normen in der heutigen Gesellschaft
verantwortlich sei, die historischen Fakten sprechen dagegen.
Zu einigen Fehlentwicklungen des
Christentums und seiner Kirchen finden sich in der
einschlägigen Literatur prägnante zusammenfassende
Bewertungen:
Christentum und Wahrheitsliebe
Schon die historisch-kritische Analyse der
Erstellung und Überlieferung der im Neuen Testament
gesammelten Texte offenbarte bei den frühen Christen einen
erschreckenden Mangel an Wahrhaftigkeit (s. oben).
Dasselbe gilt für den Prozess der Dogmenentwicklung (s.
hier).
Grundsätzlich gab und gibt es wohl kaum ein Handlungsfeld des
organisierten Christentums, das von diesem Mangel nicht
betroffen wäre.
Der Theologe Franz Overbeck (1837-1905)
äußerte sich in seinem Buch Christentum und Kultur
über die "Ehrlichkeit" im organisierten Christentum:
"Das Christentum, wenigstens in
seiner kirchlichen Form, hat die Anforderungen an Ehrlichkeit
wahrscheinlich ebenso gesteigert, als es ihr tatsächliches
Vorhandensein unter Menschen gemindert hat."
Der Theologe und Pädagoge Gustav
Wyneken (1875-1964) kam zu einer ähnlich kritischen
Einschätzung der "Wahrheitsliebe" der Christen:
"Der Mangel an Wahrheitssinn
begleitet dann die ganze Geschichte des Christentums. Diese Religion,
die den Völkern »die Wahrheit« bringen
wollte, hat in einem beispiellosen Ausmaß mit Lüge
und Betrug gearbeitet. [...]
Wir hören doch immer, dass das Christentum die Moral der
antiken Welt verbessert, vertieft und veredelt, dass es der Welt eine
neue, höhere Moral gebracht habe - auf die Wahrheitsliebe hat
sich diese Verbesserung offenbar nicht
erstreckt."
Für Wilhelm Nestle (1865-1959), der in
den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit seinem Buch Die Krisis des Christentums
ein grundlegendes Werk der Christentums-Kritik verfasste, war die
"Unwahrhaftigkeit der Christen" ein zentrales Thema:
"Dadurch, dass alle Kirchen nun
fast 2000 Jahre lang viel mehr Gewicht auf den rechten Glauben (im
Sinne ihrer »Bekenntnisse«) als auf das
rechte Leben und Handeln ihrer
Gemeindeglieder legten, haben sie den Zustand geschaffen, der heute
unser religiöses Leben verwirrt und vergiftet und eine
unerhörte Unwahrhaftigkeit
der »Christen« im Denken und
Handeln bewirkt hat."
Anmerkung
Eine eindrucksvolle Bestätigung des von
Nestle kritisierten Verhaltens der Kirchen bot erst kürzlich
die römische Konfession mit der 'Maßregelung' des
Befreiungstheologen Jon Sobrino aus El
Salvador. (s. hier)
Zu einer ähnlichen
Erkenntnis war wohl auch der Verfasser des folgenden Liedtextes gelangt
(Vers 1):
"Ich träume eine Kirche,
in der kein Mensch mehr lügt, wo niemand einen andern in
falscher Hoffnung wiegt. Ich träume eine Kirche, die wahr ist
und gerecht. Wir alle sind nun Freie und niemand Herr und Knecht."
Text:
Dieter Stork. © tvd-Verlag, Düsseldorf
Das organisierte Christentum
– "Hauptfeind des moralischen Fortschritts"?
Der reformierte Theologe Martin
Werner (1887-1964) reflektiert in seinem Buch Die Entstehung des
christlichen Dogmas die Entwicklung des
frühen Christentums unter ethischen Aspekten. Er bezieht sich
dabei insbesondere auf die Fehlentwicklungen dieser neuen Religion im
Zeitraum von der Konstantinischen
Wende bis zum 6. Jahrhundert und die aus ihnen resultierenden
negativen Wirkungen auf die weitere Zukunft des Christentums. Er stellt
fest, dass das damalige "theologisch-kirchliche Denken in der
Behandlung seiner vielfach ohnehin falsch gestellten dogmatischen
Fragen" zunehmend "die Orientierung an der Idee der Wahrhaftigkeit"
verlor. Dies ist für ihn die erste Katastrophe. Er
fährt dann fort:
"Die zweite Katastrophe ist das
Versagen des Kirchenchristentums gegenüber der seit Kaiser
Konstantin gestellten Aufgabe, in Auswertung seiner neuen
privilegierten Stellung innerhalb des Imperiums die allgemeinen
gesellschaftlichen Zustände und Ordnungen mit neuen geistigen
Kräften zu durchdringen und auf ihre Gesundung hinzuwirken.
Hier erweist sich, dass die Erlösungslehre dieser
sakramentalen Mysterienreligion selber in die abgelebte
Mentalität der Spätantike verstrickt ist. Die Kirche
wird jetzt unverhofft reich und mächtig, sie verteilt
massenhaft Almosen. Allein durch den kirchlichen Almosenbetrieb
entsteht keine bessere soziale Ordnung, und die Kirche sieht hier
weithin kein Problem. Die Almosenverteilung wird ein wirksames
Werbemittel zur Massenbekehrung der »Heiden«. Auch
der Almosenspender kommt auf seine Rechnung des ewigen Heils. Vorab die
Bischöfe der großen Zentren wie Alexandrien, Rom,
Konstantinopel und Antiochien führen das herrschaftliche Leben
eines Staatswürdenträgers, halten Hof und Gefolge.
Die reichsten und mächtigsten Kirchenfürsten, die
Metropoliten und Patriarchen, spielen politisch eine Rolle,
rivalisieren und intrigieren gegeneinander.
[...] Dass von diesem
verweltlichten Klerus eine bemerkenswerte versittlichende Wirkung auf
die wachsenden Massen der Kirchengläubigen oder gar auf die
noch bestehende heidnische Gesellschaft ausgehen könnte, ist
nicht zu erwarten. Es ist auch nicht geschehen. Unvermeidlich folgt der
Verweltlichung des Priestertums die Verweltlichung der
Gläubigen."
Die dritte Katastrophe folgte
für Martin
Werner aus der Tatsache, das dem frühen Christentum
"eine christliche Gesellschaftsethik fehlte", was fast
zwangsläufig dazu führte, dass es die vorhandenen
"antik-griechischen Gesellschaftslehren" übernahm. Diesem
Vorgang schreibt er verheerende Folgen - mit Langzeitwirkung -
für die Gesellschaften im christlichen Einflussbereich zu:
"Das war ein folgenschwerer
Vorgang: So konnte die feudalständische Gesellschaftsordnung
des Mittelalters entstehen mit ihrer Knechtung und Ausbeutung des
niederständischen Volkes durch ungleiche Verteilung von
Rechten, Pflichten und Lasten unter die verschiedenen
Gesellschaftsklassen, Leibeigenschaft, Sklaverei, Krieg und
unmenschlich massive Justiz einer immer absolutistischer werdenden
Staats- und Kirchenmacht, deren Repräsentanten,
zuhöchst Kaiser und Papst, sich als irdische Stellvertreter
des obersten Himmelsherrn zu jenen vernichtenden Gewaltmethoden
autorisieren ließen, mit welchen der eschatologische Christus
der johanneischen Apokalypse gegen allen Widerstand die neue
Weltordnung kreiert. Diese mittelalterliche Barbarei war nicht die
Barbarei des urwüchsigen, noch unkultivierten Germanen,
sondern allererst eine Barbarei des mittelalterlichen
Kirchenchristentums. Ihr haben wir schließlich das
neuzeitliche Aufkommen des gegen alle Kirchlichkeit protestierenden
atheistischen Marxismus zu verdanken, der alsdann auf dem hierzu wohl
vorbereiteten Boden des christlichen byzantinischen Ostens sich zum
System einer schlechthin totalitären, auf Entmenschlichung des
Menschen ausgehenden Weltherrschaftspolitik radikalisierte.
[...] Adolf von Harnack hat das
spätantike Ergebnis dieser Entwicklung
folgendermaßen formuliert: »An der Dekomposition
der Gesellschaft hat das Christentum selbst aufs kräftigste
mitgearbeitet; aber es ist dann nicht fähig gewesen, die
Massen emporzuheben und eine christliche Gesellschaft – in
dem bescheidensten Sinn dieses Wortes – zu bilden, sondern es
hat den Bedürfnissen und Wünschen der Massen eine
Konzession nach der andern gemacht.«
[...] In dieser Entwicklung vermag
das kirchliche Christentum das Heidentum der Umwelt nicht wahrhaft zu
überwinden. Es nimmt dieses vielmehr in sich auf und
verfällt ihm selber."
Im Folgenden beschreibt Martin Werner (1887-1964) einen
Entwicklungsprozess des frühen Christentums, dessen
Auswirkungen in einigen christlichen Konfessionen bis in unsere
Gegenwart andauern:
"Es mehren sich die materiellen
handgreiflichen Mittel, die dazu dienen sollen, das Göttliche
irdisch greifbar und genießbar, benützbar zu machen.
Die Paganisierung des Christentums
manifestiert sich im zunehmenden massiven und kritiklosen
Wunderglauben, ferner in der mit dem 4. Jahrhundert stoßweise
und lawinenartig hereinbrechenden Heiligen- und Reliquienverehrung.
Seit dem Zeitalter Konstantins wird sie zu einer Epidemie. Den
Anstoß gibt der Kult der in den letzten großen
Verfolgungen gefallenen Märtyrer. Im Reliquienkult lebt mitten
in der christlichen Kirche das heidnische Fetisch- und Amulettwesen
auf.
Dieses paganisierte
spätantike Christentum vermochte sich im Osten, soweit es dem
Druck des Islam nicht völlig erlegen ist,
großenteils nur in archaistischen Trümmerformen zu
erhalten, die seither geistig für die Welt wenig oder nichts
mehr zu bedeuten hatten. Man muss dem Urteil Recht geben: das
spätantike Kirchenchristentum hat die spätantike Welt
weder gerettet noch erneuert. Es hat sie ruinieren helfen."
Martin Werner lässt in
seiner Darstellung der katastrophalen Fehlentwicklung im
spätantiken Christentum an dieser Stelle erneut den Theologen Adolf von Harnack (1851-1930) zu
Wort kommen:
"»Der Islam, der
über diese Gebilde im Sturm gefahren ist, war ein wirklicher
Retter; denn trotz seiner Dürftigkeit und Öde war er
eine geistigere Macht als die christliche Religion, die im Orient
nahezu die Religion des Amuletts, des Fetischs und der Zauberei
geworden ist, über denen das dogmatische Gespenst, Jesus
Christus, schwebt.«
Auch respektable
Theologengestalten, wie Basilius von Cäsarea, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa, die drei
großen Kappadokier, und andere, die aus den Niederungen der
Kirchlichkeit ihrer Zeit emporragen, haben diesen Gang der Dinge nicht
zu ändern vermocht, weil sie doch schließlich das
System selbst nicht durchbrachen. Dem östlichen Christentum
war alsdann nach der Jahrtausendwende im slawisch-russischen Bereich
eine neue Entwicklung beschieden, die jedoch die Nachwirkungen des
spätantiken Verfalls nicht zu überwinden vermochte."
Die Wirkungen des von Martin Werner beschriebenen
Niedergangs des frühen Christentums sind m. E., bei
näherer Betrachtung, noch heute zu spüren. Zu einer
ähnlichen Einschätzung ist wohl der britische
Philosoph Bertrand Russel (1872-1970) in den
fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts gelangt. In seinem Essay
Warum ich kein
Christ bin bewertete er die Wirkungen des
organisierten Christentums auf die moralischen Aspekte
gesellschaftlichen Zusammenlebens deutlich negativ:
"Wenn man sich auf der Welt
umsieht, so muss man feststellen, dass jedes bisschen Fortschritt im
humanen Empfinden, jede Verbesserung der Strafgesetze, jede
Maßnahme zur Verminderung der Kriege, jeder Schritt zur
besseren Behandlung der farbigen Rassen oder jede Milderung der
Sklaverei und jeder moralische Fortschritt auf der Erde durchweg von
den organisierten Kirchen der Welt bekämpft wurde. Ich sage
mit vollster Überlegung, dass die in ihren Kirchen
organisierte christliche Religion der Hauptfeind des moralischen
Fortschritts in der Welt war und ist." (S. 32)
Unter den vom Philosophen Norbert Hoerster (*1937) 1984
herausgegeben Texten zur Religionskritik
befindet sich auch ein Originalbeitrag von Karlheinz Deschner (1924-2014) mit dem
Titel Die unheilvollen Auswirkungen des Christentums.
Das, was er im Resümee, in den letzten
Zeilen seines Beitrages, formulierte, liest sich wie eine
uneingeschränkte Bestätigung der
Einschätzung Bertrand Russels. Interessant
dabei ist die Tatsache, dass sich Deschner auf einen bekannten
protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts, auf Martin Dibelius (1883-1947),
beziehen konnte, der sich ansonsten nicht gerade als
Christentums-Kritiker hervorgetan hatte:
"Zwar scheute Papst Leo XIII. 1885
in seiner Enzyklika Immortale Dei die Behauptung
nicht: »Alles, was die persönliche Würde
des Menschen fördert, was die Rechtsgleichheit unter den
einzelnen Bürgern erhält, das alles hat die
katholische Kirche ins Leben gerufen, begünstigt und stets
geschützt.« Doch
wahr ist das Gegenteil. Wahr ist, dass alle sozialen Erleichterungen
der Neuzeit nicht durch die Kirche, sondern gegen sie geschaffen
wurden. Dass die Menschheit fast alle humaneren Formen und Gesetze des
Zusammenlebens verantwortungsbewussten außerkirchlichen
Kräften verdankt. Dass die Kirche, wie nicht ein Gegner des
Christentums, sondern der bedeutende protestantische Theologe Martin
Dibelius schreibt, stets die »Leibwache von Despotismus und
Kapitalismus« gewesen ist. »Darum waren
alle«, wie der christliche Gelehrte bekennt, »die
eine Verbesserung der Zustände dieser Welt wünschten,
genötigt, gegen das Christentum zu
kämpfen«."
Anmerkung
Die oben zitierte Behauptung des Papstes Leo
XIII. klingt schon in den Ohren derjenigen wie Hohn, die sich
nur in bescheidenem Umfang mit der Geschichte des Christentums und
seiner Kirchen befasst haben. Sie bestätigt einmal mehr, welch
gespanntes Verhältnis christliche Kirchenführer zur Wahrheitsliebe
hatten. Manches spricht dafür, dass sich dieses
Verhältnis bis heute nicht grundlegend verbessert hat.
Albert
Schweitzer (1875-1965) geht nicht so weit, wie Bertrand Russel, zu behaupten, die
negative Wirkung der Kirchen bzw. der von ihnen vertretenen
christlichen Religion auf den "moralischen Fortschritt" dauere bis in
die Gegenwart an (für Russel: fünfziger Jahre des 20.
Jh.). Es ist jedoch bemerkenswert, dass er dem organisierten
Christentum bescheinigt, erst durch die humanistischen Ideen der
Aufklärung genötigt worden zu sein, "den Kampf um die
Menschlichkeit zu unternehmen" (s. rechte
Spalte).
In seinem Buch Die Frage nach Gott
bemüht sich der Philosoph Norbert
Hoerster (*1937), im Gegensatz zu den oben zitierten harschen
Kritikern, um ein eher ausgewogenes Urteil:
"Mit Sicherheit hat das
Christentum in seiner Geschichte neben negativen auch positive
Auswirkungen auf eine humane Moral gehabt. Man denke an die karitativen
Einrichtungen, die Christen im Vertrauen auf Matthäus 5, 7
(«Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen
finden.») gegründet oder unterstützt haben.
Es wäre wohl vermessen, im Sinne einer Gesamtbilanz als
selbstverständlich zu behaupten, die negativen Auswirkungen
wögen schwerer. Diese Warnung geht jedoch in beide Richtungen.
Man sollte gewiss auch nicht als selbstverständlich behaupten,
die positiven Auswirkungen wögen schwerer."
Zieht man u. a. die, der
"christlichen Moral" häufig zugrunde liegenden, zweifelhaften,
weil von Eigennutz geprägten, Motive in Betracht, so ist die
Möglichkeit, zu einem ausgewogenen
Urteil zu gelangen, m. E. eher unwahrscheinlich: Zu schwer wiegen die
unfassbaren Verfehlungen des organisierten Christentums.
Beitrag führender
Köpfe der alten Kirche "zur Verwirrung einer Zivilisation"
Der Philosoph Peter Sloterdijk (*1947) kommt in
seinem Buch Gottes
Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen zu einer
weniger ausgewogenen Bewertung. Er leitet sie her aus den "Wirkungen
des Kirchenlehrers Aurelius Augustinus" (354-430),
der bekanntlich u. a. die Lehren von der Prädestination und von
der Erbsünde entwickelte.
Nach Sloterdijks Einschätzung darf Augustinus "das Privileg in
Anspruch nehmen, mehr als jeder andere einzelne Gläubige,
Paulus ausgenommen, zur Verwirrung, ja Neurotisierung einer
Zivilisation beigetragen zu haben." Er fährt dann fort:
"Unter dieser Diagnose
wären keineswegs nur die sexualpathologischen Verzerrungen
abzuhandeln, die über anderthalb Jahrtausende den christlichen
Lebensformen aufgezwungen waren. Als noch verhängnisvoller
erwiesen sich die Wirkungen der von Augustinus gelehrten
Prädestinationsmetaphysik: Bei näherer Betrachtung
enthüllt sich diese als das abgründigste System des
Schreckens, das die Geschichte der Religionen kennt. [...]
Um die befremdliche Doktrin des
Theologen gerechter zu würdigen, dürfte es
nützlich sein, sich bewusst zu machen, in welcher Weise alle
großen Religionen an einer Ökonomie der Grausamkeit
teilhaben. Ihr Einsatz besteht darin, die Gesamtbilanz des Grausamen in
der Welt zu senken, indem sie die Gläubigen dazu bringen, ein
gewisses Maß hiervon freiwillig auf sich zu nehmen, um
größere unfreiwillige Schrecken zu vermeiden oder
zurückzudrängen."
Sloterdijk weist darauf hin, dass
sich das frühe Christentum daher u. a. gegen die
"römische Grausamkeitskultur" wandte, was insbesondere in
seinem "Widerstand gegen die verrohenden Gladiatorenspiele" zum
Ausdruck kam. Welchen Einfluss Augustinus in diesem Zusammenhang
ausübte, fasst Sloterdijk so zusammen:
"Augustinus intensivierte diesen
Widerstand, wenn er die Milderung der menschlichen Sitten durch die
Androhung eines Maximums an jenseitiger Grausamkeit erlangen wollte.
Bei dieser Operation erlag er der Gefahr, über das Ziel
hinauszuschießen: Mit seinem unerbittlichen theologischen
Absolutismus übersteigerte der folgenreichste unter den
Kirchenvätern das diabolische Moment in Gott bis zum sakralen
Terrorismus. Daher darf man sagen, das augustinische Christentum habe
sich als Opfer einer fatalen Verlustrechnung erwiesen. Weil sich der
metaphysische Schrecken unweigerlich in psychischen und
schließlich auch physischen übersetzt, hat die
gnadenlose Gnadentheorie Augustins dazu beigetragen, dass die Bilanz
der Grausamkeit für die christianisierte Welt durch das
Evangelium eher höher ausfiel, statt zu sinken. In diesem Sinn
haben die Kritiker des Christentums den sensiblen Punkt getroffen, wenn
sie sagen, es habe oft selbst das Übel geschürt, von
dem es dann die Erlösung anbot."
Die Kirche – "erste
Lehrmeisterin des totalen Staates"?
Ernst Topitsch (1919-2003) setzte sich in seinem 1969
erschienenen Buch Mythos
∙ Philosophie ∙ Politik – Zur Naturgeschichte der Illusion
u. a. mit der möglichen Verbindung zwischen dem Verhalten
antichristlicher totalitärer Systeme (Faschismus,
Sowjetkommunismus) und der "Tradition kirchlicher Herrschaftsformen und
Herrschaftsansprüche" auseinander. Er bezog sich dabei auf
Überlegungen des reformierten Theologen Emil
Brunner (1889-1966) "über diese
Zusammenhänge zwischen hierokratischem
und totalitärem Denken":
»Die Kirche, die sich
heute über ihre Vergewaltigung durch den totalen Staat mit
Recht beklagt, sollte nie vergessen, dass sie zuerst es war, die dem
Staat das schlechte Beispiel der Gewissensvergewaltigung gab, indem sie
mit staatlicher Macht das sicherstellen wollte, was nur freier
Entscheidung entspringen kann. Die Kirche sollte sich zu ihrer
Beschämung stets daran erinnern lassen, dass sie fast in allen
Stücken die erste Lehrmeisterin des totalen Staates
war.«
Schon bei flüchtigem
Hinsehen lässt sich leicht feststellen, dass – von
den großen Konfessionen – vor allem die
römische bis heute das Amt dieser besonderen "Lehrmeisterin"
unbeirrt weiter ausübt.
Wie wurde die Kirche zur "ersten
Lehrmeisterin des totalen Staates"?
Parallel zur Wandlung der Vorstellungen von Jesus – vom "zu
Gott erhobenen Menschen zu der von dem zum Menschen gewordenen Gott"
(s. hier)
– vollzog sich die "Umwandlung der freien
Brüdergemeinde in eine hierarchische Organisation". Erich Fromm
(1900-1980) thematisierte diese Zusammenhänge in seinem Essay Das Christusdogma
und untersuchte, wie es dazu kam, dass das frühe Christentum
"zum Spiegelbild der absolutistischen Monarchie des römischen
Imperiums" wurde. Das Ergebnis seiner Analyse klingt plausibel:
"Das Christentum,
das die Religion einer Gemeinschaft gleicher Brüder war, ohne
Hierarchie und Bürokratie, wird zur Kirche, zum Spiegelbild
der absolutistischen Monarchie des römischen Imperiums. Fehlte
im ersten christlichen Jahrhundert noch ganz eine fest umgrenzte
äußere Autorität in den Gemeinden, die
entsprechend auf Selbständigkeit und Freiheit des einzelnen
Christen in Bezug auf Glaubensdinge aufgebaut waren, so ist das zweite
Jahrhundert schon charakterisiert durch die allmähliche
Ausbildung eines kirchlichen Verbandes mit autoritativen
Führern und dementsprechend durch die Etablierung einer
kirchlich-wissenschaftlichen Glaubenslehre, der sich der einzelne
Christ zu unterwerfen hatte. Ursprünglich war es nicht die
Kirche, sondern Gott, der Sünden vergeben konnte.
Später: »Extra ecclesiam nulla
salus«, die Kirche allein schützt vor der
selbstsicheren Unseligkeit. Sie wird als Institution kraft ihrer
Ausstattung heilig, die moralische Anstalt, die für das Heil
erzieht. Diese Funktion ist an die Priester gebunden, speziell an den Episkopat,
»der in seiner Einheit die Rechtmäßigkeit
der Kirche garantiert und die Kompetenz der Sündenvergebung
erhalten hat« (Cyprian). »Erst durch
den neuen Kirchenbegriff … hat die Scheidung von Klerikern
und Laien grundlegende religiöse Bedeutung erhalten. Die
Gewalt, welche die Priester und Bischöfe ausübten,
ist durch ihn fixiert und geheiligt worden« (A. v. Harnack). Diese Umwandlung
der freien Brüdergemeinde in eine hierarchische Organisation
zeigt deutlich, welche psychische Veränderung vor sich
gegangen ist. Waren die ersten Christen erfüllt von Hass und
Verachtung für die gebildeten Reichen und Herrschenden, kurz
für alle Autoritäten, so waren die Christen vom
dritten Jahrhundert an erfüllt von Verehrung, Liebe und
Anhänglichkeit an die neuen Autoritäten, die
Priester."
Anmerkung
Der im vorausgehenden Text enthaltene lateinische
Satz »Extra ecclesiam nulla salus«
lautet übersetzt: »Außerhalb
der Kirche gibt es kein Heil«.
Mit den oben diskutierten
Veränderungen erfüllte das Christentum
schließlich alle für eine Religion
charakteristischen Funktionen. Bei Erich
Fromm findet sich hierzu eine kurze und prägnante
Zusammenfassung:
"Die
Religion hat also eine dreifache Funktion: für alle Menschen
die des Trostes für die allen vom Leben aufgezwungenen
Versagungen, für die große Masse die der suggestiven
Beeinflussung im Sinne ihres psychischen Abfindens mit ihrer
Klassensituation und für die herrschende Klasse die Entlastung
vom Schuldgefühl gegenüber der Not der von ihr
Unterdrückten."
Während sich die
politischen Herrschaftssysteme, nicht zuletzt dank der neuen Ideen der
Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts, in vielen Teilen der
Welt von absolutistischen zu demokratisch verfassten Systemen gewandelt
haben, hat der größte Teil des organisierten
Christentums, namentlich in seiner römischen
Ausprägung, diesen Wandel bis heute nicht mitvollzogen.
Das organisierte Christentum
– ein Hort der Fremdbestimmung?
Albert Schweitzer (1875-1965)
analysierte im Epilog seines Buches Aus meinem Leben und Denken
das charakteristische Verhalten von "organisierten Gemeinschaften". Das
Ergebnis seiner Analyse ist m. E. unverändert gültig:
"Die organisierten staatlichen,
sozialen und religiösen Gemeinschaften unserer Zeit sind
darauf aus, den Einzelnen dahin zu bringen, dass er seine
Überzeugungen nicht aus eigenem Denken gewinnt, sondern sich
diejenigen zu eigen macht, die sie für ihn bereithalten. Ein
Mensch, der eigenes Denken hat und damit geistig ein Freier ist, ist
ihnen etwas Unbequemes und Unheimliches. Er bietet nicht
genügende Gewähr, dass er in der Organisation in der
gewünschten Weise aufgeht. Alle Körperschaften suchen
heute ihre Stärke nicht so sehr in der geistigen Wertigkeit
der Ideen, die sie vertreten, und in der der Menschen, die ihnen
angehören, als in der Erreichung einer
höchstmöglichen Einheitlichkeit und Geschlossenheit.
In dieser glauben sie die stärkste Widerstands- und
Stoßkraft zu besitzen."
Dieses für die
eigenständige geistige Entwicklung der beteiligten Individuen
äußerst schädliche Verhalten von
(Groß-)Organisationen findet, auf die "religiösen
Gemeinschaften" bezogen, ihren spezifischen Ausdruck in deren Forderung
blinden Gehorsams gegenüber ihren Dogmen
und anderen Bestandteilen ihrer Tradition. D. h.
mit dem Eintritt in die "Gemeinschaft" beginnt für das
Individuum die Fremdbestimmung.
Das Verhalten der
"religiösen Gemeinschaften" ist eine Folge der unkritischen Verabsolutierung
ihrer geschichtlich und gesellschaftlich bedingten Weltanschauungen
oder anders ausgedrückt: eine Folge ihrer Unfähigkeit
zur Selbstrelativierung. Leider sind aber weder das organisierte
Christentum noch irgendeine andere dieser "Gemeinschaften" gewillt,
sich diese Tatsache einzugestehen.
Schlussbemerkungen
Die bei meinen
Recherchen gewonnenen Erkenntnisse über die Geschichte des
Christentums und seiner Kirchen lösen bei mir immer wieder
Gefühle der Bestürzung, des Entsetzens, der Trauer
und der Wut aus. Eine objektive eigene Bewertung dieser
"Leidensgeschichte der Menschheit" ist mir, zumindest derzeit, nicht
möglich. Ich halte es daher für angemessener,
abschließend ein paar überzeugende, zusammenfassende
Bewertungen aus Schriften von außergewöhnlichen
Theologen und Philosophen zu zitieren.
Kirchengeschichte
– geprägt von christlicher Intoleranz und
Indifferenz?
Zu den vom Philosophen Norbert Hoerster (*1937) unter dem
Titel Religionskritik
herausgegebenen Texten gehört auch ein Beitrag des Philosophen
Walter Kaufmann (1921-1980). Darin
zitiert er aus einem Aufsatz des großen jüdischen
Rabbiners Leo Baeck (1873-1956), der im
Jahre 1939 erschienen war:
»Ein großer
Teil der Kirchengeschichte ist eine Geschichte davon, durch was alles
diese Frömmigkeit nicht verletzt und nicht
beeinträchtigt worden ist, was sie an menschlichem Frevel, an
menschlicher Niedrigkeit mit vergewisserter, ungestörter Seele
und unvermindertem Glauben hat ertragen können. Und
über eine geistige Art entscheidet nicht nur, was sie tut,
sondern ebenso, was sie verstattet, was sie verzeiht und wozu sie
schweigt. Die christliche Religion, und in ihr ganz besonders auch der
Protestantismus, hat zu so vielem stille zu sein vermocht, und es ist
schwer zu sagen, was im Gange der Zeiten immer verderblicher gewesen
ist, die Intoleranz, die das Unrecht tat, oder die Indifferenz, die es
ungestört mit anblickte.«
Geschichte
des Christentums – Leidensgeschichte der Menschheit?
Eine sehr kurze und dennoch außerordentlich treffende
Beschreibung der Geschichte des Christentums stammt vom Philosophen Ludwig Feuerbach (1804-1872), die
ich im 6. Kapitel seines Werkes Das
Wesen des Christentums fand:
"Leiden ist das höchste
Gebot des Christentums – die Geschichte des Christentums
selbst die Leidensgeschichte der Menschheit."
Hat
«Gott» die Geschichte des Christentums gelenkt?
Abschließend sei hier nochmals der Theologe Franz Overbeck (1837-1905)
zitiert. Das Zitat stammt aus seinem Buch Christentum und Kultur.
Mir ist bei meinen Recherchen kaum eine überzeugendere aber
auch kaum eine vernichtendere Bewertung des Christentums und seiner
Geschichte begegnet:
"Die beste Schule, um an dem
Dasein eines Gottes als Weltlenkers zu zweifeln, ist die
Kirchengeschichte, vorausgesetzt, diese sei die Geschichte der von Gott
in die Welt gesetzten Religion des Christentums, und es werde demnach
angenommen, er habe ihre Geschichte gelenkt. Augenscheinlich hat er
dies nicht getan, in der Kirchengeschichte ist nichts wunderbar, in ihr
erscheint das Christentum der Welt so unbedingt preisgegeben wie nur
irgendein anderes Ding, das in ihr lebt. Sofern dem Christentum auf dem
Gebiet des geschichtlichen Lebens auch nicht eine der Korruptionen und
Verirrungen erspart geblieben ist, denen die Dinge unterworfen sind,
hält die Kirchengeschichte keine Vorstellung ferner als die
eines besonderen, über der Kirche waltenden Schutzes."
Eine sehr naheliegende
Schlussfolgerung aus diesen Gedanken Overbecks kann nur lauten: Die besten
Schüler der Kirchengeschichte sind die Atheisten.
Das
Christentum – "noch lange relevant"?
Im Buch Der Jesus-Mythos
des britischen Autors und ehemaligen katholischen Priesters Peter de Rosa (*1932)
stieß ich auf ein Wort, das dem sehr nahe kommt, was mich
gegen Ende meiner Beschäftigung mit der Geschichte dieser
Religion bewegt:
"Es wird immer schwerer einsehbar,
wie die Religion eines jüdischen Eschatologen aus
dem 1. Jahrhundert noch lange relevant sein kann. Vielleicht ist sie
schon wie ein ferner Stern, dessen Licht wir sehen, nachdem er
längst erloschen ist."
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